Nr. 9 / 26.2.2022DER SPIEGEL 91
»Störungen, die bestehen
bleiben«
PANDEMIEFOLGEN Die Psychologin Maria Plötner, 35,
von der Universität Leipzig über die Zunahme
seelischer Probleme bei Kindern und Jugendlichen
SPIEGEL: Frau Plöt
ner, in den vergan
genen Wochen und
Monaten wurde
viel über die psy
chischen Probleme
der Kinder und
Jugend lichen geredet. Jetzt ha
ben Sie Ergebnisse einer Be
fragung vom Sommer 2021 vor
gelegt, die zeigen, wie es an der
Basis, in den Praxen, aussah.
Was erfuhren Sie?
Plötner: Wir haben in einer On
lineumfrage unter 324 ambulan
ten Kinder und Jugendthera
peuten Antworten dazu erhal
ten, wie sich deren Arbeit im
Vergleich zur Zeit vor der Pan
demie verändert hat. Aus den
Ergebnissen wird deutlich, dass
sich der Bedarf an Hilfe generell
erhöht hat. Auf einen Therapie
platz wartetet man im Schnitt
fast doppelt so lange wie vorher,
nämlich etwa ein halbes Jahr.
Überlegt man sich, was das ge
messen am Lebensalter eines
Kindes bedeutet, ist das ein un
glaublich langer Zeitraum.
SPIEGEL: Was ist die Folge,
wenn die Hilfe so spät kommt?
Plötner: Der Mehrzahl psychi
scher Störungen bei Erwachse
nen ist eine Störung im Kindes
und Jugendalter vorausgegan
gen. Psychische Probleme kön
nen sich mit zunehmendem
Alter verstärken und verfestigen.
Es besteht also ein hohes Risiko
dafür, dass nicht nur im Hier
und Jetzt solche Störungen ent
stehen, sondern dass sie in
der Folge im Leben bestehen
bleiben. Wichtig wäre es,
schnell zu helfen.
SPIEGEL: Was hat sich in den Pra
xen noch als Problem gezeigt?
Plötner: Im Untersuchungszeit
raum haben sich bei mehr als
der Hälfte der Patientinnen und
Patienten die Symptome ver
schlechtert. Außerdem treffen
die behandelnden Kolleginnen
und Kollegen jetzt auch ver
schiedene psychische Störungen
in ihren Praxen häufiger an. Ins
besondere gilt das für Depres
sionen und Angststörungen, die
stark zugenommen haben.
Das sind sogenannte interna
lisierende Störungen.
SPIEGEL: Was muss man sich
darunter vorstellen?
Plötner: Negative Gefühle wer
den nach innen gekehrt, Kinder
ziehen sich eher zurück, wer
den ängstlich, traurig, depressiv
oder entwickeln körperliche Be
schwerden wie Bauch oder
Kopfschmerzen. Wir wissen be
reits aus anderen Studien, dass
internalisierende Symptome bei
Kindern seit Pandemiebeginn
gestiegen sind. Neu ist: Wir se
hen, dass in den Praxen nun
vermehrt Symptome auftreten,
die das Ausmaß einer voll
wertigen psychischen Störung
haben. Das heißt, dass die
Kinder in ihrem Leben so stark
eingeschränkt sind, dass man
sie behandeln muss. Zum
Beispiel, wenn sie wegen einer
Depressivität nicht mehr
aus dem Haus, nicht mehr
zur Schule gehen.
SPIEGEL: Wie muss sich das
System ändern, um Kinder
besser und schneller behandeln
zu können?
Plötner: Schon vor der Pande
mie war das System stark aus
gelastet, konnte längst nicht alle
Bedürftigen versorgen. Das hat
sich noch einmal verschärft. Zu
psychischen Folgeschäden kom
men gesamtgesellschaftlich ge
sehen natürlich auch immer
ökonomische. Man sollte des
wegen jetzt kurzfristig den
gestiegenen Bedarf ausgleichen.
Die derzeit zugelassenen Pra
xen, die mit den Krankenversi
cherungen abrechnen dürfen,
können den aktuellen Bedarf
nicht stemmen. Es müssen mehr
Therapieplätze geschaffen wer
den. Eine Möglichkeit wäre es,
dass Privatpraxen in einem zeit
lich festgelegten Rahmen Be
handlungen übernehmen und
von den Krankenkassen zurück
erstattet bekommen. Eine wei
tere Idee wäre, das psycho
soziale Angebot an den Schulen
auszubauen. Und noch ein
Punkt: Man muss in Bezug auf
die Pandemie mehr Verläss
lichkeit schaffen. KK
Signale vom Sterben
NEUROLOGIE Ärzte haben die Gehirnakti
vität eines sterbenden Menschen untersu
chen können. Kurz vor dem Tod und noch
etliche Sekunden danach blieb das Gehirn
aktiv und zeigte ein bestimmtes Muster an
Hirnströmen. Die Daten stammen von
einem 87 Jahre alten Mann. Während einer
Elektroenzephalografie (EEG) war er plötz
lich verstorben, die Aufnahme lief weiter.
»Wir haben insgesamt 900 Sekunden auf
gezeichnet«, sagt der deutsche Neurochirurg
Ajmal Zemmar, 38. In einem ZoomGe
spräch mit dem SPIEGEL berichtet er: »Wir
sahen in den 15 Sekunden vor und in
15 Sekunden nach dem Herzstillstand eine
Erhöhung der GammaOszillation. Wenn
wir höhere kognitive Funktionen im Gehirn
ausüben, etwa Konzentrieren, Träumen,
Meditieren, wenn wir uns an etwas erin
nern, dann sind das alles Momente, in
denen GammaOszillationen im Gehirn
aktiv sind.«
Der Patient war nach einem Sturz im
Vancouver General Hospital eingeliefert
worden, Zemmar entfernte ein Hämatom
im Kopf chirurgisch. Am dritten Tag danach
bekam der Patient epileptische Anfälle. Er
wurde an ein EEG angeschlossen und erlitt
während der Untersuchung einen Herzstill
stand. Das dabei entstandene Elektroenze
phalogramm, schreibt Zemmar mit Kolle
gen in »Frontiers in Aging Neuroscience«,
spreche dafür, dass »das menschliche Ge
hirn dazu in der Lage sein könnte, während
der Nahtodphase koordinierte Aktivitäten
zu erzeugen«. Der Neurochirurg, der inzwi
schen an der University of Louisville in
Kentucky arbeitet, sagt, man solle den Be
fund mit Vorsicht interpretieren. Es gebe
die Daten nur eines Patienten, der Schwel
lungen am Gehirn und epileptische Anfälle
aufwies. Dennoch ist der Bericht bemer
kenswert – tritt das Gehirn mit einer letzten
Aufführung ab? »Natürlich ist die Vorstel
lung da«, sagt Zemmar, »dass das Gehirn es
einem ermöglicht, an die schönsten Erin
nerungen im Leben noch einmal zurückzu
denken. Dass diese im Gehirn als Replay
ablaufen, bevor man Tschüss sagt.« BLE
Untersuchung per Elektroenzephalografie
romaset / Getty Images
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