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(coco) #1

FORSCHUNG AKTUELL


ANTHROPOLOGIE


DIE ERSTEN TIBETER


Schon vor mindestens 40 000 Jahren, mitten in der
letzten Kaltzeit, lebten auf dem tibetischen Hoch­
land Menschen. Die heutigen Tibeter tragen noch
Erbgut mehrerer alter Homininenarten sowie einer
frühen, in Sibirien entdeckten Linie des Homo
sapiens in sich.


Die ersten Menschen, die auf das »Dach der Welt«
vordrangen, mussten sich mit einer der gnadenloses-
ten Umwelten arrangieren, in der unsere Spezies
überhaupt noch zu siedeln vermag. Im Durchschnitt liegt
die Hochebene von Tibet mehr als 4500 Meter hoch.
Dort herrscht ein kaltes, trockenes Klima – bei halb so viel
Sauerstoff wie auf Meeresniveau. Bisher glaubten die
Forscher, der Mensch habe sich vor frühestens 15 000
Jahren in diese unwirtliche Region vorgewagt. Doch neue
genetische und archäologische Befunde deuten auf eine
wesentlich ältere erste Besiedlung hin. Demnach erreich-
ten Homininen Tibet bereits mitten während der letzten
globalen Kaltzeit, vielleicht sogar schon vor etwa 60 000
Jahren. Diese Eiszeitphase setzte, grob gesagt, vor gut
100 000 Jahren ein und endete vor mehr als 10 000 Jahren.
Für eine große Studie haben Wissenschaftler um den
Populationsgenetiker Shuhua Xu, der unter anderem bei
der chinesischen Wissenschaftsakademie in Schanghai
arbeitet, erstmals das komplette Genom von ethnischen
Tibetern sequenziert – 38 an der Zahl. Diese Sequenzen
verglichen die Forscher mit denen von Han- Chinesen und
diversen anderen Ethnien aus aller Welt und rekonstruier-
ten anhand dessen die Verwandtschaftsbeziehungen und
zeitlichen Abstammungsverhältnisse. Laut Xu sprechen
die Daten für komplex verwobene prähistorische Wander-
bewegungen in der Region und verschiedenste daraus
resultierende genetische Beiträge zur tibetischen Populati-
on. Am meisten staunten die Experten allerdings über das
unerwartet hohe Alter mancher für Tibeter typi schen
Sequenzen. Diese Abschnitte lassen sich auf Vorfahren
zurückführen, die irgendwann vor 62 000 bis vor 38 000
Jahren lebten und möglicherweise die ersten Siedler
Tibets waren.
Nach jener ersten Einwanderung, als die Eiszeit das
Hochland zunehmend härter in die Zange nahm, scheinen
genetische Kontakte zwischen den damaligen Tibetern mit
anderen Bevölkerungen für mehrere zehntausend Jahre
praktisch aufgehört zu haben, und vermutlich gab es auch
so gut wie keine neu zuwandernden Menschen. Eisschilde
machten die Migrationsrouten auf lange Zeit selbst für die
zähesten Jäger und Sammler unpassierbar, vermutet Xu.
Aber nach dem Höhepunkt dieser Kaltzeit müssen in der
Zeit vor etwa 15 000 bis vor 9000 Jahren Menschen in
Scharen wieder in das Gebiet vorgedrungen sein. »Das
war die Einwanderungswelle, die den Genpool der heuti-
gen Tibeter vor allem prägt«, erklärt Xu. Dieses Ergebnis

passt zu unabhängig gewonnenen Befunden zur Höhenan-
passung der Tibeter, wonach sich genetische Mutationen,
die ihnen das Leben in der dünnen Luft erleichterten, vor
12 800 bis 8000 Jahren zu etablieren begannen.
Der Anthropologe und Archäologe Marc Aldenderfer
von der University of California in Merced, ein Experte für
menschliche Höhenanpassung und Tibetkenner, zeigt sich
von der Arbeit seiner chinesischen Kollegen beeindruckt.
Die Studie schlüssle im Einzelnen auf, wie aus dem geneti-
schen Beitrag von Menschengruppen ganz verschiedener
Herkunft die spätere Bevölkerung der Tibeter erwuchs –
ein völlig anderes Szenario als nach der bisherigen Auffas-
sung, wonach die Tibeter erst spät aus Chinesen und
einigen Himalajabewohnern hervorgegangen sein sollen.
Der neuen Analyse zufolge macht der Erbgutanteil der
Tibeter, der vom so genannten modernen Menschen
kommt, also dem Homo sapiens, 94 Prozent aus. Das
übrige Erbgut stammt von längst verschwundenen Homi-
ninen, darunter von Neandertalern, Denisovanern sowie
bisher noch nicht bekannten früheren Menschenarten.
Betrachtet man allein den »modernen« Anteil, so ähnelt
er zu 82 Prozent Genomen von ostasiatischen Menschen.
11 Prozent davon verweisen nach Mittelasien sowie Sibiri-
en und 6 Prozent nach Südasien. Mutmaßlich geht das
meiste H.-sapiens-Erbgut auf den erwähnten großen
Einwanderungsschub am Ende der letzten Kaltzeit zurück.
Jedoch fanden sich auch »moderne« genetische Spuren,
die auffallend DNA-Sequenzen des vor rund 45 000 Jahren

GETTY IMAGES / SINO IMAGES; KLEINES FOTO: GETTY IMAGES / EDWINA DEACON
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