SdW0517

(coco) #1
AUF EINEN BLICK
VIELGLEISIGE FORSCHUNG

1


Wenn die Lysosomen, die Verdauungsorgane der
Zelle, nicht mehr richtig funktionieren, können schwere
Stoffwechselerkrankungen entstehen – die
so genannten lysosomalen Speicherkrankheiten.

2


Verursacht werden diese Leiden oft von Defekten im
Genom, die zu fehlerhaften Enzymen führen und so die
Verdauungstätigkeit der Lysosomen beeinträchtigen.

3


Forscher haben mittlerweile zahlreiche Behandlungs-
verfahren entwickelt. Einige verändern enzymatische
Aktivitäten in der Zelle; andere verhindern, dass sich
Stoffwechselzwischenprodukte gefährlich anreichern.

Einige Substanzen blockieren die Herstellung potenziell
schädlicher Moleküle im Körpergewebe, andere sorgen für
den funktionalen Ersatz ausgefallener Enzyme. Doch trotz
dieses immer breiteren Behandlungsspektrums ist es nach
wie vor schwierig, Wirkstoffe ins Zentralnervensystem
einzuschleusen, um jene neurologischen Symptome zu
behandeln, die zu den gefürchtetsten Begleiterschei-
nungen vieler LSK gehören. Mediziner hoffen, dass man-
che von den derzeit in Entwicklung befindlichen Arznei-
stoffen diese Barriere endlich überwinden werden.

Kreuzweiser Austausch von Enzymen lässt
Krankheitsanzeichen verschwinden
Wie so vieles in der Wissenschaft gehen auch die Enzym-
ersatztherapien auf eine Zufallsentdeckung zurück. In den
1960er Jahren vermischten Wissenschaftler um Elizabeth
Neufeld, heute an der University of California in Los An-
geles, versehentlich die Zellen zweier Patienten, die an
verschiedenen LSK aus der Gruppe der Mukopolysacchari-
dosen litten: Morbus Hurler und Morbus Hunter. Erstaunli-
cherweise hatte das zur Folge, dass beide Zellsorten ihre
Krankheitsanzeichen verloren. Wie Neufeld und ihre Kolle-
gen herausfanden, sonderte jede Zellsorte genau das
Enzym ab, das bei der jeweils anderen ausgefallen war,
und nahm die ihr selbst fehlende Enzymvariante von den
Nachbarn auf – ein Vorgang namens Kreuzkorrektur.
Den Befund griff Roscoe Brady vom National Institute
of Neurological Disorders and Stroke in Bethesda (Mary-
land) auf, der sich auf die Erforschung und Diagnostik des
Gaucher-Syndroms spezialisiert hatte. Brady und sein
Team veränderten die Glucocerebrosidase so, dass sie ein
Zuckermolekül namens Mannose auf der Oberfläche trug.
Das half dem Enzym, in Makrophagen einzudringen, jene
Fresszellen des Immunsystems, die am stärksten von der
Gaucher-Krankheit betroffen sind. Mit den so veränderten
Molekülen führte das Team eine der ersten Studien zur
Enzymersatztherapie am Menschen durch.
Sich bei diesen frühen Arbeiten auf Morbus Gaucher zu
konzentrieren, sei eine sehr gute Entscheidung gewesen,

sagt Carla Hollak, Stoffwechselmedizinerin am Amster-
dam Lysosome Centre in den Niederlanden. Denn die
Krankheit schreite bei vielen Patienten nur langsam fort,
und einige ihrer Auswirkungen ließen sich rückgängig
machen. »Deshalb bieten sich gute Behandlungsmöglich-
keiten.« Andere LSK nähmen einen viel schnelleren Verlauf
und verursachten irreversible Schäden.
Das Unternehmen Genzyme, heute ein Tochterunter-
nehmen von Sanofi, entwickelte gemeinsam mit Brady
dessen Enzymvariante zu dem Medikament Ceredase
weiter. 1991 ließ die US-Arzneimittelbehörde FDA das
Mittel für die Behandlung des Gaucher-Syndroms zu.
Mittlerweile wurde das Präparat durch Cerezyme ersetzt,
welches mit Hilfe von gentechnisch veränderten Bakterien
produziert wird.
Derzeit gibt es Enzymersatztherapien für ein ganzes
Spektrum von Erkrankungen, darunter Morbus Gaucher,
Morbus Fabry und Morbus Pompe, zudem vier ver-
schiedene Mukopolysaccharidosen sowie Erkrankungen
infolge von Defekten in dem Enzym lysosomale saure
Lipase. Weitere Wirkstoffe befinden sich in Entwicklung,
einschließlich solcher zur Behandlung der Mukopolysac-
charidose Typ VII und einer Variante der Niemann-Pick-
Krankheit.
Die Ersatztherapie hat jedoch auch ihre Schattenseiten.
Das Enzym muss lebenslang alle paar Wochen durch
Infusion in die Venen verabreicht werden, was manche
Patienten als sehr belastend empfinden. Zudem ist die
Behandlung teuer: Die Kosten liegen bei ungefähr
250 000 US-Dollar je Patient und Jahr, denn Proteine sind
viel schwieriger herzustellen als kleinmolekulare Wirk-
stoffe. Weiterhin kann sich die Wirksamkeit sehr stark
unterscheiden; beispielsweise schlagen Enzymersatzthera-
pien bei Gaucher-Patienten besser an als beim Fabry-Syn-
drom, denn obwohl dabei verwandte Enzyme betroffen
sind, schädigen die Erkrankungen unterschiedliche Organ-
systeme. Und bei manchen LSK empfiehlt sich eine
Enzym ersatztherapie überhaupt nicht. So sind an der
Niemann-Pick-Krankheit Typ C und an der jugendlichen
Form der Batten-Krankheit bestimmte Proteine der
Lysosomen membran beteiligt. Solche Membranproteine
lösen sich aber nicht in Wasser, so dass man sie nicht
intravenös verabreichen kann.
Der vielleicht größte Schwachpunkt der Enzymersatz-
therapie besteht allerdings darin, dass die verabreichten
Enzyme die Blut-Hirn-Schranke nicht überwinden – und
damit nicht verhindern, dass sich bestimmte Moleküle in
den Neuronen in schädlichen Konzentrationen anreichern.
Manche Wissenschaftler arbeiten an Verfahren, um die
Enzyme direkt ins Zentralnervensystem (ZNS) einzubrin-
gen, etwa indem man sie hinreichend häufig ins Gehirn
oder ins Rückenmark verabreicht. Aber hierfür muss man
zunächst chirurgisch einen entsprechenden Zugang zum
ZNS schaffen, was die Gefahr einer Infektion birgt. Das ist
bei kleinen Kindern, die von neurologischen Symptomen
am stärksten betroffen sind, ein besonders schwer wie-
gendes Problem.
Die meisten Proteine sind zu groß, um die Blut-Hirn-
Schranke zu passieren. Viele Forscher versuchen daher,
Free download pdf