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(coco) #1

KOSMOLOGIE


GEGENWIND FÜR DIE


DUNKLE MATERIE


Große Himmelsobjekte bewegen sich anders als nach den
Gravi tationsgesetzen vorhergesagt. Die meisten Kosmologen
machen dafür die Wirkung noch unbekannter Teilchen
verantwortlich. Ein theoretischer Physiker widerspricht – und
belebt mit seinem neuen Ansatz eine alte Debatte.

Natalie Wolchover ist Journalistin und
Physikerin in New York. Sie schreibt
regelmäßig für das »Quanta Magazine«.

 spektrum.de/artikel/1443905


Seit nunmehr acht Jahrzehnten rätseln Wissenschaft-
ler über eine Substanz, die sie nicht sehen können,
deren Schwerkraft sie aber benötigen, um die Bewe-
gungen der Galaxien zu erklären. Diese so genannte
Dunkle Materie sollte sogar fünfmal so viel Masse besitzen
wie alle übrigen Objekte im All zusammen. Wir kennen
demnach nur einen Bruchteil unseres Universums – ob-
wohl Tausende von Physikern nach den Teilchen fahnden,
aus denen die Dunkle Materie bestehen könnte. Da sie
sich nur durch ihre Gravitationskraft bemerkbar macht,
sendet sie kein Licht aus und absorbiert keines. Es ist also
unmöglich, sie in Teleskopen direkt zu sehen. Dennoch
glaubt die Mehrzahl der Astronomen an ihre Existenz.
Am Ausgangspunkt ihrer Überlegungen steht dabei eine
zentrale Annahme: Wir wissen genau, wie sich Himmels-
körper bewegen. Dort, wo sie sich nicht so verhalten wie er-
wartet, verrät sich demnach die Dunkle Materie als Einfluss
einer verborgenen Masse. Was allerdings, wenn die grund-
legenden Theorien über die Bahnen von Objekten im Uni-
versum falsch sind? Was, wenn die Schwerkraft auf sehr
großen Skalen anders funktioniert? Dann wären womöglich
gar keine unsichtbaren Bausteine nötig, um eigenartige
Befunde zu erklären, sondern vielmehr neue Gesetze.
Dieses Argument vertritt nur eine Minderheit der Kos-
mologen, dennoch wird es in Fachkreisen seit einiger Zeit

wieder intensiv diskutiert. Anlass dafür war ein Vorschlag
von Erik Verlinde, einem theoretischen Physiker an der
Universität Amsterdam. Er ist für seine kühnen und weit-
sichtigen, mitunter nicht ganz ausgereiften Ideen bekannt.
Am 7. November 2016 veröffentlichte Verlinde online einen
51 Seiten langen Artikel. Darin erklärt er die Gravitation zu
einem Produkt quantenmechanischer Wechselwirkungen.
Die zusätzliche Schwerkraft, die man der Dunklen Materie
zuschreibt, ist seiner Ansicht nach ein Effekt der so ge-
nannten Dunklen Energie, die in das raumzeitliche Gefüge
des Universums eingewoben ist und dessen beschleunigte
Expansion antreibt (siehe Spektrum September 2016, S. 12).
Dunkle Materie sei nicht eine Ansammlung unsichtbarer
Teilchen, sondern ein Wechselspiel zwischen gewöhnli-
cher Materie und Dunkler Energie.
Für seine Beweisführung bedient sich Verlinde einer
radikal neuen Sichtweise auf die Gravitation, die für zahl-
reiche führende Theoretiker derzeit besonders vielverspre-
chend ist. Diesen Überlegungen zufolge ist Gravitation ein
emergentes Phänomen, geht also auf großen Skalen aus
dem Zusammenspiel kleinster Elemente hervor. Sowohl
die Raumzeit als auch die Materie sind in der modernen
Interpretation so etwas wie ein Hologramm, das von
einem Netz quantenmechanischer Information erzeugt
wird (siehe Spektrum Februar 2017, S. 20).
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