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(coco) #1
Society« von einem ersten Test der Theorie von Verlinde.
Margot Brouwer von der Universität Leiden und ihre
Kollegen verglichen Verlindes Formeln mit den Daten von
mehr als 30 000 Galaxien. Demnach sagt die Theorie
korrekt die schwerkraftbedingte Verzerrung der Galaxien-
bilder voraus. Diese so genannten Gravitationslinsen
waren ein weiteres Phänomen, das bislang vor allem den
Auswirkungen der Dunklen Materie zugeordnet wurde.
Allerdings hatte bereits der Begründer von MOND Ähnli-
ches gezeigt: Milgrom demonstrierte, dass seine Theorie
mit den Beobachtungen von Gravitationslinsen in Einklang
steht. So gesehen ist das Ergebnis des Teams um Brouwer
nicht überraschend. Um wirklich zu punkten, müsste
Verlindes Modell deshalb darüber hinaus Phänomene
beschreiben können, bei denen die ursprüngliche Variante
von MOND versagt.
Kathryn Zurek, die am Lawrence Berkeley National La-
boratory an der Theorie der Dunklen Materie forscht, sieht
Verlindes Ansatz zumindest als Hinweis darauf, solche
Konzepte ernster zu nehmen. »Am meisten hat der modi-
fizierten Gravitation eine fehlende Theorie zu schaffen ge-
macht, welche die neuen Eigenschaften der Schwerkraft
nachvollziehbar erklären würde«, sagt sie. »Wenn Verlindes
Arbeit dafür einen Rahmen liefert, dann reicht das viel-
leicht schon aus, um einer intensiveren Auseinandersetzung
mit MOND-Varianten neues Leben einzuhauchen.«
In den Theorien von Newton und Einstein nimmt die
Anziehungskraft zwischen zwei Massen mit dem Quadrat
ihres Abstands ab. Sterne, die ihre Bahnen in einer Galaxie
ziehen, sollten also umso weniger Anziehungskraft spüren
und entsprechend langsamer kreisen, je weiter sie vom
Zentrum entfernt sind. Tatsächlich fallen die Geschwindig-
keiten der Sterne im inneren Bereich von Galaxien nach
außen hin so ab, wie es die quadratische Abnahme der
Schwerkraft vorhersagt. Doch ab einer gewissen Distanz
bleiben die Geschwindigkeiten nahezu konstant, anstatt
weiter zu sinken. Diese Diskrepanz hatte die Astronomin
Vera Rubin in den 1970er Jahren entdeckt. Sie gilt als ein

wichtiger Hinweis auf die Existenz der Dunklen Materie.
Nach der gängigen Vorstellung hüllt diese die Galaxien in
gewaltige »Halos« aus unsichtbarer Masse und verpasst
so den weiter am Rand kreisenden Sternen eine zusätzli-
che gravitative Beschleunigung (siehe »Das Rätsel der
galaktischen Umlaufbahnen«, rechts).
Aus welcher Art von Teilchen könnten diese Halos be-
stehen? Das versuchen Physiker mit immer empfindliche-
ren Detektoren weltweit zu ergründen. Als wahrschein-
lichste Kandidaten gelten einerseits die WIMPs (englisch
für weakly interacting massive particles, schwach wech-
selwirkende massereiche Teilchen) und andererseits so
genannte Axionen. Mit diversen, speziell dafür ausgeleg-
ten Experimenten suchen Physiker nach beiden – bislang
erfolglos (siehe Spektrum November 2015, S. 42).

Bei kleinen Beschleunigungen scheint sich Materie
plötzlich anders zu verhalten
Bereits seit den 1970er Jahren arbeiten Theoretiker
wie Milgrom an alternativen Erklärungen. Viele der frühen
Versuche, die Gravitation abzuändern, ließen sich
leicht widerlegen. Doch Milgrom stieß auf ein Erfolgs-
rezept: Wenn die auf einen Stern wirkende Gravitations -
be schleunigung unter einen bestimmten Wert sinkt –
0,00000000012 Meter pro Sekundenquadrat, das ist rund
100 Milliarden Mal schwächer als die Schwerebeschleu-
nigung auf der Erdoberfläche –, dann wechselt die Gravi-
tation ihm zufolge von der quadratischen Abnahme zu
einem eher linearen Verlauf. »Es gibt eine Art magische
Grenze«, sagt McGaugh, »bis zu der alles normal und
newtonisch ist. Jenseits von ihr wird es seltsam. Die
Theorie sagt uns leider nicht, wie man von dem einen
Bereich in den anderen gelangt.«
Da Physiker keine Magie mögen, vor allem aber, weil
weitere kosmologische Beobachtungen sich viel bequemer
mit Dunkler Materie erklären ließen als mit MOND, ver-
warfen sie den alternativen Entwurf. Jetzt ist er zurück im
Gespräch. Denn Verlindes Theorie liefert einen Anhalts-
punkt, wie der Zaubertrick funktionieren könnte.
Der 1962 geborene Verlinde hat sich in Fachkreisen um
technisch anspruchsvolle Berechnungen in der Stringtheorie
verdient gemacht. Die Ideen hinter seiner neuesten Arbeit
skizzierte er erstmals 2010. Damals hatte er die Gravitation
rundheraus für nicht existent erklärt. Verlinde übernahm
seinerzeit mehrere Überlegungen, die eben erst aus den
Ideenschmieden der theoretischen Physik hervorgegangen
waren und verflocht sie miteinander. Sein Ergebnis: Die
Gravitation sei ein emergenter thermodynamischer Effekt
und hänge eng mit einer Zunahme der Entropie zusammen,
einem Maß für die stets wachsende Unordnung eines
Systems. Darauf folgten fruchtbare Diskussionen, in denen
sich dieses spezielle Konzept von emergenter Gravitation
zwar als fehlerbehaftet erwies. Doch ähnliche Gedankengän-
ge wie die, von denen Verlinde ausging, brachten andere
Theoretiker zur modernen holografischen Beschreibung von
Raum und Zeit. Verlinde hat diese Herangehensweise wie-
derum in seine neue Arbeit eingebaut und erklärt die ge-
krümmte Raumzeit zu einer geometrischen Verkörperung
von Quanteninformation.

AUF EINEN BLICK
COMEBACK EINES AUSSENSEITERS

1


Galaxien und große Strukturen im All verhalten sich
anders, als es allein anhand der sichtbaren Materie
und der Gravitationsgesetze zu erwarten wäre.

2


Die meisten Astronomen führen die beobachteten
Phänomene auf unbekannte Teilchen zurück, die sich
nur durch ihre Schwerkraft bemerkbar machen und
nicht mit Licht oder anderen Feldern wechselwirken.

3


Alternative Ansätze modifizieren die Gleichungen der
Gravitation – jedoch fehlte dafür bislang eine theore-
tische Grundlage. Diese liefert nun ein Physiker. Aber
sein Konzept ist kompliziert und umstritten.
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