SdW0517

(coco) #1

Warum vollzog sich der dauerhafte Aufschwung da-
mals in Europa und nicht in China? Ein Grund: Die poli-
tische Aufspaltung Europas erlaubte den Vertretern neuer
und unerwünschter Ideen oder Religionen, dem örtlich
herrschenden Regime zu entfliehen und sich anderswo
anzusiedeln. Heutzutage, in der Ära der Globalisierung,
lassen sich Güter, Dienstleistungen und in geringerem
Maß Menschen leicht und billig rund um die Erde bewe-
gen. Nicht zuletzt dadurch ist es Indien und China gelun-
gen, der schlimmsten Not zu entkommen.
Doch ist auf das seit 1750 herrschende Wachstum
weiter unbegrenzt Verlass? Oder zeigen die schwarzen
Wolken am Horizont an, dass die Quelle des Wohlstands
versiegt? Nur weil die vergangenen 250 Jahre eine Ära des
Fortschritts waren – freilich mit einigen schrecklichen
Unterbrechungen –, dürfen wir nicht glauben, dass das
ewig so weitergeht.


Vielfältige Folgen
sozialer Unterschiede
Ich betrachte Ungleichheit nicht von vornherein als schäd-
lich. Mein Wohlbefinden ändert sich nicht bloß deshalb,
weil sonst jemand gewinnt oder verliert. Ungleichheit ist
manchmal nur ein anderes Wort für Anreize. Wer etwas
erfindet, das allen nützt, wird oft mit großem Reichtum be-
lohnt, doch das allein gefährdet noch nicht den gesell-
schaftlichen Zusammenhalt. Erst die indirekten Auswir-
kungen der Ungleichheit bedrohen unsere Zukunft.
In den Industrieländern pendelte die Wachstumsrate
des jährlichen Pro-Kopf-Einkommens lange um etwa
2 Pro zent, doch nun sinkt sie. Hinzu kam 2008 der Absturz
durch die Finanzkrise, von der sich die USA und Europa
bestenfalls teilweise erholt haben. Ist diese massive Re-
zession nur eine vorübergehende Episode der Marktwirt-
schaft – oder ein Vorbote noch schlimmerer Krisen?
Das Wachstum des Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukts
bleibt ein zwar unvollkommener, aber dennoch verlässlicher
Indikator für steigenden Wohlstand. Bei 3 Prozent pro Jahr
verdoppeln sich die Einkommen in 25 Jahren, das heißt im
Lauf einer einzigen Generation; bei jährlich 2 Prozent
Wachs tum dauert es 35 Jahre, bei 1 Prozent 70 Jahre. In
den USA und Europa haben viele Familien jedoch nicht nur
die Chance verloren, es besser zu haben als ihre Eltern,
sondern müssen sogar gegen sozialen Abstieg ankämpfen.
Mit versiegendem Wachstum nimmt politischer Streit zu.
Solange der gesamte Kuchen wächst, kann jeder ein größe-
res Stück bekommen; ist das nicht mehr der Fall, lässt sich
eine Portion nur auf Kosten anderer vergrößern. Das Glei-
che gilt für öffentliche Güter wie Gesundheitsversorgung,
Sozialversicherungssysteme, Bildung und Infrastruktur. Nur
bei prosperierender Wirtschaft können diese Güter erhalten
und erweitert werden, ohne dass jemand Einbußen erleidet;
andernfalls sind soziale Opfer fällig.
Bei stagnierendem Wachstum entstehen Gruppen, die
ihre Mitglieder auf Kosten der Gesamtbevölkerung berei-
chern, indem sie Gesetze und Vorschriften erzwingen, die
nur deren Einkommen erhöhen oder sie anderweitig prote-
gieren. Dadurch verschlechtert sich das Innovationsklima,
und das Wachstum stagniert erst recht. Ökonomen nennen


dieses Streben nach staatlich garantierten Einkommens-
vorteilen Rent-Seeking; oft handelt es sich dabei um
Lobbying oder simple Korruption. Wie der amerikanische
Wirtschaftswissenschaftler Mancur Olson (1932– 1998)
meinte, führen diese Aktivitäten den Niedergang reicher
Nationen herbei. Heutzutage lassen sich dafür leicht Bei-
spiele finden. 2015 gab eine wichtige staatliche For-
schungseinrichtung der USA, die Gesundheitsbehörde NIH
(National Institutes of Health), eine erstaunliche Erklärung
heraus: Sie würde keine Forschung finanzieren, deren
Hauptziel darin bestünde, Kosten und Effizienz des Ge-
sundheitssystems zu bewerten. Die NIH stand dabei unter
massivem Druck des von der Gesundheitsindustrie großzü-
gig geschmierten Kongresses, der die von Präsident Oba-
ma durchgesetzte Gesundheitsreform zutiefst ablehnte.
Wenn das vorhandene Wachstum nicht halbwegs
gerecht verteilt wird, entstehen soziale Spannungen. Die
Benachteiligten halten vielleicht still, solange sie wenigs-
tens etwas bekommen, doch wenn ihr Einkommen sta-
gniert oder schrumpft, werden sie unruhig. Ungleichheit
wird zum politischen Problem. Im Idealfall führt Unzufrie-
denheit zu gesellschaftlichem Wandel. Doch wenn das
politische System nur die Bedürfnisse der Reichen be-
rücksichtigt, gerät die politische Stabilität in unmittelbare
Gefahr. Falls die großen Parteien den Ausgegrenzten
nichts anzubieten haben, wenden sich die Benachteiligten
Strömungen zu, welche die repräsentative Demokratie
bedrohen.
Viele Menschen erleben den Verlust des Wohlbefindens
sehr konkret. In der Mitte der Gesellschaft stagnieren die
Einkommen. In den USA herrscht eine Gesundheitskrise
unter den nicht hispanoamerikanischen Weißen mittleren
Alters, die sich häufig durch Drogen, Selbstmord und
Alkohol zu Grunde richten. In den letzten Jahren hat die
Lebenserwartung nur bei wohlhabenden Amerikanern
zugenommen.
Warum stagniert das Wachstum? Über die Gründe
besteht zwar keine Einigkeit, aber unstrittig ist, dass alle

AUF EINEN BLICK
RISKANTE UNGLEICHHEIT

1


In den vergangenen Jahrzehnten sind die Ein-
kommensunterschiede in vielen Industrieländern
stetig größer geworden.

2


Solche Unterschiede sind schädlich, wenn es kleinen,
aber mächtigen Gruppen gelingt, die politischen
und ökonomischen Regeln zum eigenen Vorteil zu
verändern: Dann stagniert die Wirtschaft.

3


Auf Dauer lässt sich Prosperität nur erreichen, wenn
die Ungleichheit gemildert wird. Andernfalls drohen
wirtschaftliche Dauerkrisen und soziale Konflikte,
welche die Demokratie gefährden.
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