SdW0517

(coco) #1
A

m Zaun hängt ein Schild, aber
ich weiß nicht, ob es den
Namen wirklich verdient. Es
gleicht mehr einer Collage,
die ein Vorschulkind geklebt hat – mit
aus Holo-Displays geklauten Buch-
staben und antiken Markierungen, ver-
manscht wie der Eintopf, den Mark
jeden Freitagabend serviert. Die
Worte auf dem Schild sind nur müh-
sam zu erkennen: »Erste Fragmen-
tierte Kirche der Entropie«. Apropos
Mark, wo zum Henker steckt er?
Schließlich hat er mich dazu ge-
bracht, herzukommen.
Ich mustere das Gebäude – brö-
ckelnde Ziegel und zerbrochene
Fenster – und suche den Eingang. Die
Tür ist aus den rostigen Angeln gefal-
len und liegt im Unkraut neben dem
Fußweg.
Das fängt ja gut an. So schlimm
habe ich es mir dann doch nicht
vorgestellt.
Ich trete ein und verliere fast das
Gleichgewicht. Den Boden bedeckt

ein Durcheinander von Fliesen, Kunst-
fasern und etwas Grünem, das lebt.
Die Kirche ist rappelvoll. Sie be-
steht nur aus einem großen Raum, in
dem hier und da Sitzgelegenheiten
verstreut sind. Ich würde sie Stühle
nennen, wenn ich wüsste, dass sie
nicht bei der kleinsten Belastung
zusammenbrechen würden. In einem
Winkel zerschmettern ein Mann

und sein Sohn Vasen mit einem
Baseballschläger. Am anderen Ende
des Raums stopft jemand, auf
dessen T-Shirt »Maxwell« steht, kleine
Kugeln in eine Hälfte eines unterteil-
ten Plexiglasbehälters, während sein
Freund, der sich als Teufel kostümiert
hat, mit dämonischem Kichern eine
Klappe in der Trennwand zwischen
den beiden Hälften ständig auf- und
zumacht.
Da entdecke ich Mark. Er räkelt
sich auf einem halben Sofa neben
einem Baumstumpf. Ich laufe zu ihm
hin, wobei ich einen Bogen um ein
Schwimmbecken machen muss, das
offenbar hierhergehört. »Hallo!«, sage
ich. Ich bin froh, an einem derart
schrägen Ort ein vertrautes Gesicht
zu finden.
Er küsst mich und grinst. »Na, was
sagst du?«
»Nun ja, es ist schon ... allerhand.«
Ich werfe einen Blick auf das Gewirr
von Bildschirmen, Holo-Projektoren
und alten Neonbuchstaben, die von

der Decke baumeln. »Obwohl ich
vermute, dass sie ein paar Bauvor-
schriften verletzen.«
Mark lächelt und zuckt mit den
Schultern: »Irgendwann geht alles
kaputt.«
In letzter Zeit sagt er das oft. Zwar
gefällt mir seine plötzliche Sorglosig-
keit, aber der angehende Wissen-
schaftler in mir schreit auf, wenn er

so redet. Ich möchte ihm erklären,
dass Entropie mehr bedeutet als
unordentliche Inneneinrichtungen und
zerbrochene Gegenstände, doch er
starrt mit breitem, albernem Grinsen
zur Bühne.
»Es geht los«, flüstert er.
Der Raum verdunkelt sich – zu-
mindest dort, wo die Beleuchtung
funk tioniert –, und zugleich explodiert
ein ohrenbetäubender Lärm. Vermut-
lich könnte man den Krach Musik
nennen, wenn er nicht so schrecklich
anzuhören wäre.

W

ie ich beim Rundumblick
erkenne, hat sich die
»Band« über das ganze Au-
ditorium verteilt. Ein Typ
steht oben auf der Bühne und häm-
mert auf einem überdimensionierten
elektrischen Xylofon herum, aber
gleich hinter uns hockt eine Dame
und lässt den verstümmelten Motor
eines Hoverbikes ohne das geringste
Gespür für Takt und Rhythmus auf-

heulen. Ich könnte schwören, dass ich
irgendwo eine Gans, ach was, einen
halben Bauernhof höre, nur wo, kann
ich nicht sagen.
Und dann hört es auf.
Ein bebrillter Greis erhebt sich aus
seinem Sessel und schlurft auf die
Bühne. Nicht gerade das, was ich mir
unter einem Sektenführer vorge-
stellt habe. Pardon, nicht Sekte – Mark

Jemand stopft Kugeln in eine Hälfte eines Plexiglasbehälters, während


sein Freund, der sich als Teufel kostümiert hat, mit dämonischem Kichern


eine Klappe in der Trennwand ständig auf- und zumacht


futur III


Irgendwann geht alles kaputt


Besuch bei der Ersten Fragmentierten Kirche der Entropie.


Eine Kurzgeschichte von Steven Fischer

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