SdW0517

(coco) #1
kann das Wort nicht leiden –, son-
dern »fortschrittliche, aufgeklärte
Gemeinde«.
»Guten Morgen«, spricht der Alte.
Und dann erlebe ich das erste nor-

male Ereignis, seit ich angekommen
bin: Alle erwidern den Gruß.
Der Greis lächelt, ergreift den di-
gitalen Teleprompter und wirft ihn
in die Luft. »Alles geht kaputt!«, ver-
kündet er. Der Prompter zersplit-
tert auf dem Boden, und alle applau-
dieren.
Und wir haben wieder nicht alle
Tassen im Schrank.
Er wirft einen kurzen Blick auf die
Menge, wobei seine zerzauste, schüt-
tere Frisur ihm die Sicht zu versperren
droht. »Wie ich höre, haben wir heute
sogar einen neuen Gast in unserer Ge-
meinde.«
Ich gebe mir Mühe, im Boden zu
versinken, aber er zeigt geradewegs
auf mich. »Willkommen!«, ruft er.
»Warum kommst du nicht nach
vorne?«

M

ark kichert vor Aufregung.
Er packt meinen Arm und
versucht, mich auf die Füße
zu stellen. »Los, geh, Jan«,
flüstert er. »Das wird lustig.«
Ich werfe ihm einen vernichtenden
Blick zu und arbeite mich zur Bühne
vor. Der Priester – oder Pastor? Chef-
Thermodynamiker? – wendet sich mir

erwartungsvoll zu. »Also, was hat
dich heute zu uns geführt?«
Ich zeige auf Mark. »Der da.« Da er
der Grund ist, dass ich hier bin, soll er
wenigstens die Schuld übernehmen.

Der Greis schüttelt den Kopf.
»Nein, nein, nein. Was hat dich wirk-
lich hergeführt?«
Ich ringe nach Worten. Dass ich
mir Sorgen mache, weil mein bester
Freund sich mit ein paar total aus-
geflippten Typen eingelassen hat,
erscheint mir als Antwort unpassend.
»Ich meine, ich habe ein paar
Fragen.«
Der ganze Raum applaudiert frene-
tisch. Warum eigentlich?
»Wohlan«, erwidert der weißhaa-
rige Alte, »schieß los.«
Ich weiß, was Mark sagen würde.
Dass ich voll gestresst bin und mit
den Nerven fertig und immer unter
Termindruck, und dass ich Tag und
Nacht am Bildschirm hänge. Dass
seine plötzliche Fähigkeit, das Leben
leichtzunehmen, seit er hierher
kommt, mich neugierig macht. Das
stimmt zwar, aber ...
Ist dort an der Hintertür etwa ein
Feuer ausgebrochen?
Jetzt reicht es mir. »Also gut. Ich
frage mich, woher eine Kirche, die
den Anspruch erhebt, die Unordnung
anzubeten, sich das Recht nimmt, ein-
mal pro Woche eine Gruppe zu ver-
sammeln, in einem bestimmten

Gebäude zu einem bestimmten
Zweck, und sie über ein Thema zu
belehren, das im Lauf der Jahrhun-
derte durch hochgradig reglemen-
tierte Gedanken und Experimente
entdeckt worden ist. Sie erkennen die
Ironie, nicht wahr?«
Ich erwarte, dass er etwas sagt,
aber er starrt nur vor sich hin. Dann
verlässt er die Bühne und schreitet
schnurstracks durch den Eingang
hinaus ins Freie. Einer nach dem
anderen verlassen auch die übrigen
Gemeindemitglieder den Raum,
bis nur Mark und ich übrig bleiben.
Ich steige von der Bühne, nehme
Mark bei der Hand, und wir folgen
den anderen. »Das tut mir echt leid«,
murmle ich. »Ich weiß, ich habe
versprochen, mich anständig zu
benehmen.«
Draußen reißt der alte Mann einen
Buchstaben nach dem anderen vom
Schild.
Mark zuckt die Achseln und grinst
mich an. »Irgendwann geht alles
kaputt.«

DER AUTOR
Steven Fischer ist Student und lebt im
Süden Wisconsins. In seiner Freizeit
schreibt er Sciencefiction und durchstreift
die großen Wälder mit seiner Frau.

©Nature Publishing Group
http://www.nature.com
Nature 540, S. 162, 1. Dezember 2016

Ich gebe mir Mühe, im Boden zu versinken,


aber der Greis zeigt auf mich: »Willkommen!


Warum kommst du nicht nach vorne?«

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