SdWSBMH0217

(Martin Jones) #1
EVOLUTIONSGENETIK

GENREGULATION

IM VORFELD DER TIERE

Ein Einzeller beleuchtet den Ursprung der Tiere. Er besitzt
genetische Elemente, die in deren Evolution wichtig waren.

David S. Booth und Nicole King arbeiten an der
University of California in Berkeley. Sie erforschen
die genetische Evolution früher Vielzeller anhand
ihrer nächsten einzelligen Verwandtschaft.

 spektrum.de/artikel/1441458


Ein entscheidender Schritt für die Evolution der Tier-
welt war der Übergang zur Vielzelligkeit. Zwar spielten
dafür einst auch massive Umweltveränderungen wie
der steigende Sauerstoffgehalt in der Atmosphäre eine
Rolle sowie die Tatsache, dass komplexe Zellen entstanden
waren, die kleinere Zellen in sich eingeschlossen hatten
und sich zu Nutze machten. Doch erst genauere Einblicke
ins Genom und in die Steuerung der Gene machen den
Übergang wirklich verständlich. Eine Forschergruppe um
Arnau Sebé-Pedrós von der Universität Barcelona unter-
sucht deswegen das Erbgut und die molekulare Ausstat-
tung eines amöbenhaften Einzellers, der zu den allernächs-
ten Verwandten vielzelliger Tiere zählt: Capsa spora owczar­
zaki ist ein mikroskopisch winziger Parasit einer tropischen
Süßwasserschnecke.
Jetzt haben sich die Forscher dessen Genre gulation
genauer angeschaut. Und tatsächlich wirkt Capsaspora in
der Hinsicht wie ein Übergangsstadium zu vielzelligen
Tieren. Denn bei diesem Organismus deuten sich schon
bestimmte Steuerungsmechanismen der Genaktivierung
an, die für Tiere typisch und unverzichtbar sind. Der einzel-
lige Parasit erlaubt somit einen Blick auf das genregulato-
rische Ausgangsmaterial im Vorfeld ihrer Entstehung.
Vor mehr als 600 Millionen Jahren ermöglichten geneti-
sche Neuerungen Vorläufern der vielzelligen Tiere, ökologi-
sche Nischen einzunehmen, die sich damals eröffneten.
Jene genetischen Eigenschaften lassen sich heute nur
noch indirekt anhand ähnlicher heutiger Lebensformen
erschließen. Den tiefsten Einblick lieferten bisher Verglei-
che der Erbanlagen jetziger Tiere mit denen von Kragen-
geißeltierchen (Choanoflagellaten) sowie mit Capsaspora.
Beide zählen zu ihrer nächsten Verwandtschaft.
Diese Studien brachten Unerwartetes ans Licht: Besagte
einzellige Organismen verwenden schon in vielem das
gleiche Genwerkzeug wie die Tiere. So besitzen sie etwa
Gene für Integrine, Cadherine und andere so genannte

Zelladhäsionsproteine. Sie haben auch bereits Erbsequenzen
für lebenswichtige Signalübertragungsproteine, darunter
die Rezeptortyrosinkinasen. Das bedeutet: Viele typische
»Tiergene« sind tatsächlich älter als die vielzelligen Tiere.
Aber selbstverständlich ist eine Fliege oder eine Fleder-
maus nicht lediglich die Summe ihrer Gene. ,Erst eine
räumlich und zeitlich gesteuerte Genaktivierung verhilft
dazu, dass aus einer Eizelle ein Embryo wird und daraus
etwa eine Fliege. Auch Beine und Flügel müssen an den
richtigen Stellen wachsen. Das Ablesen von Genen regen
bei den Vielzellern Transkriptionsfaktoren an, indem sie
zu Regula tionsregionen dicht am Gen Kontakt aufnehmen.
Dort interagieren sie mit als Promotoren bezeich neten
Sequenzen. Eine derartige Gensteuerung »aus der Nähe«
entstand somit eindeutig vor den Tieren. Wahrscheinlich
ist sie sogar für jedes zelluläre Leben unverzichtbar – eine
vereinfachte Version davon findet sich bereits in Bakterien.
Hingegen kennt man bisher nur bei Tieren eine Regu-
lation der Transkription über teils weit vom Gen entfernt

ARNAU SEBÉ PEDRÓS UND IÑAKI RUIZ-TRILLO / CAPSASPORA_CELLS (WWW.FLICKR.COM/

PHOTOS/121041113@N07/25955606676) / CC BY 2.0 (CREATIVECOMMONS.ORG/LICENSES/BY/2.0/LEGALCODE)

Die Amöbe Capsa­
spora owczarzaki
überrascht mit
genetischen
Tricks, die man
ausschließlich
Tieren zugetraut
hatte.
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