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(Martin Jones) #1

liegende DNA-Sequenzen, so genannte Enhancer (Trans-
kriptionsverstärker). Die Forscher vermuten, dass die
raumzeitlich koordinierte Zelldifferenzierung während der
Entwicklung eines Tiers wesentlich auf einer derartigen
»Fernsteuerung« beruht. Allerdings lassen sich solche
Transkriptionsverstärker nicht leicht aufspüren, weil sie oft
in komplizierte regulatorische Netzwerke eingebettet sind.
Die Frage war darum, ob sie nicht doch bereits eher in
der Evolution vorkamen.
Die Gruppe um Sebé-Pedrós wollte daher wissen, welche
Formen der Regulation von Genaktivität dem Auftritt mehr-
zelliger Tiere tatsächlich Vorschub geleistet hatten. Capsa­
spora bot sich für solche Studien aus meh reren Gründen an:
Der Organismus lässt sich im Labor leicht züchten; er kann
zwischen dem Leben als Einzeller und dem als mehrzelliges
Aggregat wechseln. Und er verfügt über zahlreiche Tran-
skriptionsfaktoren, die auch Tiere besitzen.
Wie sich nun zeigte, treten bei ihm sogar die beiden
Proteine Myc und Brachyury auf, die in der Tierentwick-
lung wesentliche Funktionen haben. Ersteres regelt dort
übergeordnet die Zellvermehrung. Und Brachyury tritt in
Aktion, wenn sich der frühe Embryo zu einem Becher
einstülpt und sich die drei »Keimblätter« bilden: Es sorgt
für die Differenzierung des Mesoderms, aus dem unter
anderem Knochen, Muskeln und viele Organe entstehen.
Bei Tieren wirken beide Faktoren über Enhancer: Indem
sie sich an die betreffenden DNA-Abschnitte anlagern,
regulieren sie die Aktivitäten gleich eines ganzen Netz-
werks davorliegender Gene. Zum Erstaunen der Forscher
kommen jene Netzwerke bereits bei Capsaspora vor. Sie
müssen somit sehr alt sein.
Dass der Einzeller das Myc-Netzwerk aufweist, wundert
weniger. Schließlich pflegen sich auch seine Zellen zu
vermehren. Doch das Vorhandensein des Transkriptions-
faktors Brachyury überrascht, da bei Capsaspora weder ein
Becherkeim noch ein Mesoderm vorkommen. Dennoch


regelt dieser Faktor anscheinend die gleichen Gentypen
wie bei Tieren. Es scheint sich so zu verhalten wie mit
bestimmten Molekülen zur Zelladhäsion und zur Signal-
übermittlung: Die entsprechenden Gene waren schon
früher vorhanden und erhielten bei den Tieren neue Aufga-
ben. Das heißt, auf dem Weg zur Vielzelligkeit wurden
offenbar einige schon vorher vorhandene Genregulations-
netzwerke in Gänze zum Steuern von jetzt erst erforder-
lichen Entwicklungsprozessen herangezogen.
Diese Übernahmen allein erklären den Ursprung der
Tiere jedoch nicht. Hinzu kamen auch neue Gene – wie
jenes für das nur ihnen eigene Signalübertragungsprotein
Wnt – sowie die erwähnten Enhancer, die Genaktivitäten
von fern verstärken. Und während Tiergenome lange
genfreie Abschnitte aufweisen, besitzt Capsaspora ein
kompaktes Genom, in dem die Forscher keinerlei Hinweise
auf eine Fernsteuerung der Transkription fanden, auch
nicht im mehrzelligen Stadium. Außerdem entdeckte das
Team um Sebé-Pedrós bei Capsaspora keine Promotoren,
die gewissen Prototypen bei Tieren entsprechen, welche
nur in bestimmten Entwicklungsphasen anspringen.
Wann in der Tierevolution mögen diese neueren Pro-
motortypen entstanden sein? Und wann traten erstmals
Enhancer auf? Noch fehlen entsprechende Studien zu den
einfachsten Tieren wie Schwämmen, Rippenquallen und
ihren nächsten Verwandten. Vielleicht besitzen manche von
ihnen sogar völlig andere, noch nicht entdeckte Genregu-
lationsmechanismen.

Alte Mechanismen zur Gensteuerung


Einige Genregulationsnetzwerke
der Tiere sind uralt (blaue Linie im
Stammbaum). Zwei ihrer Transkrip-
tionsfaktoren besitzt bereits eine

Amöbe. Sie bekamen später Auf-
gaben in der Tierentwicklung. Über
größere Entfernung arbeitende
Enhancer (Transkriptionsverstärker)

sind bisher als Frühestes von einer
Seeanemone bekannt. Sie könnten
schon mit den ersten Tieren evol-
viert sein (rote Linien).

BOOTH, D.S., KING, N.: GENE REGULATION IN TRANSITION. IN: NATURE 534, S. 482-483, 2016, FIG. 1; BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT

Taufliege Mensch
Drosophila

Nematostella
(Seeanemone)

Rippenquallen

Tiere

Kragengeißel-Schwämme
tierchen

Capsaspora
(Amöbe)

QUELLEN
Sebé-Pedrós, A. et al.: The Dynamic Regulatory Genome of
Capsaspora and the Origin of Animal Multicellularity. In: Cell 165,
S. 1224 –1237, 2016
(©) Nature Publishing Group
http://www.nature.com
Nature 534, S. 482–483, 23. Juni 2016
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