Fisch, Frosch oder Mensch: Sie alle beginnen ihre
Existenz mit einer einzigen Zelle, aus der letztlich ein
höchst organisierter und komplizierter Organismus
hervorgeht. Die befruchtete Eizelle teilt sich in zwei, vier,
acht Zellen – und nach wenigen Wochen sind es bereits
Zehntausende. Zu diesem Zeitpunkt hat der ursprünglich
kugelförmige Zellhaufen eine längliche Form angenom
men, ist an einem Ende ausgebeult und dicker, und über
die ganze Länge verläuft eine flache Furche. Bald darauf
wird diese tiefer, ihre Wände neigen sich einander zu, bis
sich die Zellen berühren und zusammenkleben. Damit
entsteht ein langes, hohles Rohr, aus dem sich später am
verdickten Ende das Gehirn und auf der anderen Seite das
Rückenmark entwickelt.
Damit die Zellen sich in einem Embryo derart präzise
anordnen können, müssen sie irgendwie spüren, wo sie
sich im Verhältnis zum übrigen Organismus befinden und
wo in diesem vorn und hinten, oben und unten ist. In den
letzten Jahrzehnten sind wir und andere Entwicklungsbio
logen der Frage nachgegangen, wie dieses Orientierungs
system der Zellen funktioniert. Dabei haben wir eine
entscheidende Komponente entdeckt: ein System aus
mehreren Proteinen, die in jeder Zelle gemeinsam eine Art
Miniaturkompass bilden. Ohne diesen könnten sich Herz,
Lunge, Haut und andere Organe nicht richtig entwickeln.
Verändert sich eines der fraglichen Proteine beim Men
schen durch eine Mutation, sind schwere Geburtsfehler
die Folge.
Zwar gibt es noch viele unbeantwortete Fragen zur
Funktionsweise des Orientierungssystems, doch lassen
bereits unsere bisherigen Entdeckungen grundlegende
Entwicklungsprozesse im Tierreich in einem neuen Licht
erscheinen. Am meisten wissen wir bisher über die Funk
tion des zellulären Kompasses in Epithelzellen. Sie bede
cken gewöhnlich eine Gewebeoberfläche, indem sie
Schichten von der Dicke lediglich einer Zelle bilden. Dabei
kann jede dieser Zellen mit Hilfe der von uns und anderen
Forschern gefundenen Proteine spüren, in welche Rich
tung im Körper ihre jeweiligen Begrenzungen zeigen.
Wissen die Zellen eines Organismus, wo sie sich in
diesem befinden, profitiert das Lebewesen von einem
entscheidenden evolutionären Vorteil: Seine Gewebe,
gerade auch die komplexer aufgebauten, müssen nicht
Die Entwicklung eines Menschen wird anfangs unter
anderem durch die Polarität neu entstehender Zellen
gesteuert. Die elektronenmikroskopischen Aufnah-
men zeigen im Uhrzeigersinn den Querschnitt eines
Spermiums noch im Hoden ( 1 ), und dann, wie es
sich der viel größeren Eizelle nähert ( 2 ). 22 Tage
nach der Befruchtung (^3 ) haben die Zellen der
Neuralleiste (gelb) noch nicht jene Röhre geformt,
aus der später Gehirn und Rückenmark hervorgehen.
Diese beiden Organe sind sechs Wochen nach der
Befruchtung deutlich zu erkennen (^4 ).
ENTWICKLUNGSBIOLOGIE
ZUR RICHTIGEN ZEIT
AM RICHTIGEN ORT
Einen Körper aufzubauen, ist nicht einfach. Spezielle Gene
und Proteine sorgen dafür, dass sich die Zellen während
der Entwicklung richtig anordnen. Sonst drohen Fehlbildungen.
Paul N. Adler (links) ist Professor für Biologie an der
University of Virginia. Jeremy Nathans ist Professor für
Molekularbiologie und Genetik, Neurowissenschaft
und Augenheilkunde an der Johns Hopkins University
School of Medicine und forscht daneben am Howard
Hughes Medical Institute.
spektrum.de/artikel/1411556