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(Martin Jones) #1
mehr in alle Richtungen symmetrisch sein. Stattdessen
können sich einzelne Teile davon spezialisieren. Beispiels­
weise erkennen die haarförmigen Zilien am einen Ende
des Schneckengangs im Ohr hohe Frequenzen, die am
anderen Ende niedrige. Eine solche Asymmetrie einer
Gewebeschicht bezeichnen Forscher als planare Polarität.
Die Gene, deren Proteinprodukte für die planare Polari­
tät sorgen, ähneln sich sehr auch bei entwicklungsge­
schichtlich weit voneinander entfernten Arten, etwa
zwischen Säugetieren und Insekten. Entsprechend sind
die zugehörigen Gene sehr alt: Sie entstanden schon vor
mehr als 500 Millionen Jahren im Zuge der damaligen
Herausbildung des Tierreichs.
Vieles, was wir über die planare Polarität wissen,
haben Forscher seit Mitte des 20. Jahrhunderts durch
Studien an Insekten herausgefunden. Der Einfachheit
halber konzentrierten sie sich mit ihren Experimenten
nicht auf innere Organe, sondern auf die leichter zugängli­
che harte Außenhaut (Cuticula), die man bei den meisten
ausgewachsenen Insekten findet. Ausgeschieden wird die
Cuticula von einer unmittelbar darunter liegenden Schicht
weicherer Epithelzellen, der Epidermis.
Im Mikroskop zeigt sich die Außenseite der Cuticula als
klar geordnete Landschaft aus Leisten und Schuppen,
die in regelmäßigen Abständen mit Haaren und Borsten
versehen ist. Manche dieser Auswüchse sprechen auf
Druckveränderungen oder chemische Substanzen an und
tragen so dazu bei, dass die Tiere auf ihre Umwelt rea­
gieren können. Außerdem sind solche Haare oder Borsten
fast immer parallel zu ihren Nachbarn angeordnet, so

dass alle Spitzen in die gleiche Richtung weisen. An den
Flügeln zeigen die Haare vom Körper weg, am Rumpf
weisen sie in die vom Kopf abgewandte Richtung. Wie die
Wände des entstehenden Neuralrohrs wissen anschei­
nend auch diese Zellen, wo vorn und hinten liegt. Außer­
dem scheinen sie ermitteln zu können, in welcher Rich­
tung der Abstand zu anderen Geweben kleiner (proximal)
oder größer (distal) ist.
Wie Peter Lawrence von der University of Cambridge,
Michael Locke von der University of Western Ontario und
andere schon vor mehr als 40 Jahren mit einer Reihe
bahn brechender Experimente nachweisen konnten,
tauschen Zellen solche Richtungsinformationen unterein­
ander aus. Die Forscher schnitten damals bei Wanzen der
Gattungen Rhodnius und Oncopeltus winzige Hautquadra­
te aus jener Epidermisschicht heraus, die das Außenske­
lett hervorbringt. Sie drehten die Stückchen dann um
180 Grad und pflanzten sie am Bauch der Insekten wieder
in die Epidermis ein.
Nun könnte man annehmen, dass die Leisten oder
Borsten, die in der Cuticula aus dem verdrehten Trans­
plantat wuchsen, im Vergleich zu ihrer Umgebung in die
entgegengesetzte Richtung wiesen. Aber nach der nächs­
ten Häutung, als die Insekten ihr altes Außenskelett
abgelegt und ein neues aufgebaut hatten, beobachteten
die Wissenschaftler eine verblüffende Veränderung: An
den Grenzen des verpflanzten Quadrats bildeten sich
wunderschöne Wirbel. Deren Verteilung zufolge hatten
benachbarte Zellen ihre Orientierung jeweils so ange­
passt, dass die Unterschiede möglichst gering blieben.
Offensichtlich konnten die Zellen sich also darüber ver­
ständigen, in welche Richtung ihre Leisten und Borsten
zeigen sollten. Aber wie machten sie das?
Um die dahinterstehenden zellulären und molekularen
Mechanismen aufzuklären, brauchte man eine neue
Taktik – einen genetischen Ansatz statt chirurgischer
Eingriffe. Und wenn es um Genetik geht, ist kein anderes
Insekt so gut erforscht wie die bereits seit 1910 eingehend
untersuchte Taufliege Drosophila melanogaster.

Taufliegen mit Wuschelfrisur
Seit den 1980er Jahren beschäftigten sich einige Wissen­
schaftler, darunter auch einer von uns (Adler), näher mit
der Gewebepolarität bei Taufliegen. Dazu identifizierten
wir mutierte Taufliegen mit defektem Polaritätssystem, die
wir daraufhin genauer analysierten. Das ermöglichte uns
Rückschlüsse auf die normale Funktion des Systems. So
weisen etwa die Haare auf den Flügeln von Drosophila
genau wie die am Bauch der Wanzen einheitlich in die
gleiche Richtung, in diesem Fall zum äußeren Flügelende.
Bei Mutationen in einem Gen namens frizzled sehen die
Fliegen dagegen völlig unfrisiert aus: Viele Haare zeigen in
falsche Richtungen. Ein ähnliches Muster erzeugen Muta­
tionen in dem Gen dishevelled. Die Übereinstimmungen
deuten darauf hin, dass beide Gene zum gleichen System
gehören, das die Orientierung der Zellen kontrolliert.
Zwei Forschergruppen haben die Frage systematisch
untersucht, wie sich frizzled, dishevelled und andere
Mu tationen bei Taufliegen auf verschiedene Teile der

Mutationen in einem dieser Gene


lassen Haarwirbel entstehen,


die an die Pinselstriche von van


Gogh erinnern


AUF EINEN BLICK
JEDE ZELLE HAT IHREN PLATZ

1


Alle Tierzellen müssen wissen, wo im Körper sie sich
befinden. Forscher haben einige Proteine identifiziert,
mit deren Hilfe Zellen spüren, in welcher Richtung im
Tier vorn oder hinten, oben oder unten ist.

2


Diese Gewebepolaritätsproteine sind so wichtig, dass
sich die zugehörigen Gene seit ihrer Entstehung kaum
verändert haben; sie finden sich in Taufliegen und
Mäusen ebenso wie in Menschen.

3


Das lässt sich etwa an Haarwuchsmustern untersu­
chen. Laut einem Modell verbreiten die Proteine
Informationen über die Position mittels Anziehungs­
und Abstoßungseffekten quer durch Zellschichten.
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