Wie breiten sich laut diesem Modell Richtungssignale in
einer Zellgruppe aus? Angenommen, in einer einlagigen
Zellschicht sind die Proteine für planare Polarität in jeder
einzelnen Zelle mehr oder weniger zufällig verteilt. Nun
fügt man an der linken Seite eine neue Reihe von Zellen an,
in denen sich die VanGoghProteine links und die Frizzled
Proteine rechts aufhalten. Dann würden die FrizzledMole
küle in der neuen Zellreihe die bis dahin zufällig verteilten
VanGoghProteine in der nächsten Reihe nach links ziehen
(siehe »Gegensätzliche Pole«, unten).
In der zweiten Reihe würde sich Frizzled daraufhin auf
der rechten Seite der Zellen anreichern, weit weg vom
sich links sammelnden Van Gogh. Die FrizzledProteine
der zweiten Zellreihe würden dann ihrerseits die Van
GoghMoleküle der benachbarten dritten Reihe anziehen.
Auf diese Weise könnte sich das asymmetrische Ver
teilungsmuster der Gewebepolaritätsproteine von einer
Reihe zur nächsten durch die gesamte Zellschicht fort
pflanzen.
Das Modell sagt insbesondere voraus, dass die asym
metrische Verteilung der Proteine sehr stabil sein sollte:
Tanzt eine Zelle aus der Reihe, indem sich die Polaritäts
proteine in ihr nicht richtig verteilen, bringen Signale ihrer
Nachbarn auf beiden Seiten sie wieder auf Kurs.
Angeregt durch die Experimente von Gubb und Adler
mit Drosophila suchten andere Wissenschaftler wie
Jeremy Nathans auch bei Wirbeltieren nach Genen für
planare Polarität. Ihre Experimente und nachfolgende
umfangreiche Genomsequenzierungen brachten überall im
Tierreich bemerkenswert ähnliche Polaritätsgene ans Licht.
Bei Pflanzen scheint es hingegen keine derartigen Gene zu
geben. Die hübschen Muster vieler Blüten und anderer
Pflanzenorgane dürften also durch völlig andere Polaritäts
systeme entstehen.
Säugetiere besitzen aus bisher ungeklärten Gründen
mehrere Versionen jedes Polaritätsgens von Drosophila.
Beim Menschen und anderen Säugern gibt es zum Bei
spiel drei starry-night-Gene, Taufliegen besitzen nur eines.
Auch die Gene frizzled und dishevelled liegen jeweils in
mehreren Kopien vor.
Nathans versucht herauszufinden, wie das System der
planaren Polarität bei Säugetieren im Detail funktioniert.
Als geeigneter Ausgangspunkt erwiesen sich wiederum
verschiedene Strukturen der Haut, etwa die Haare. An
JEN CHRISTIANSEN / SCIENTIFIC AMERICAN MÄRZ 2016
Gegensätzliche Pole
Magnete lagern sich so zusammen, dass entgegenge
setzte Pole (hier: rot und blau) sich anziehen, während
gleiche Pole sich abstoßen. Etwas Ähnliches könnte
sich in Epithelzellen abspielen, die typischerweise eine
Einzelzellschicht bilden. Einige Orientierungsproteine
stoßen einander ab, wenn sie sich in derselben Zelle
befinden, und ziehen sich an, wenn sie in benachbar
ten Zellen vorkommen (ganz rechts). Solche negativen
und positiven Interaktionen lassen die unten darge
stellten blauen und roten Bereiche entstehen.
Da die Proteine sich von einer Reihe zur nächsten
abwechselnd abstoßen und anziehen, breitet sich das
asymmetrische Muster aus, bis die gesamte Zell
schicht polarisiert ist.
Ausbreitung des Polaritätsmusters mit der Zeit
Epithelzellschicht
Polarität
in Magneten
Polarität
in Epithelzellen
Proteine in der
selben Zelle
stoßen sich ab
Proteine in be
nachbarten Zellen
ziehen sich an
Die hübschen Muster vieler Blüten
und anderer Pflanzenorgane
dürften durch völlig andere Polari-
tätsgene entstehen