SdWSBMH0217

(Martin Jones) #1


Leicht schaukelnd liegt die »Naiad Explorer« an die-
sem frühen Vormittag vor dem Kieselstrand von
Malcolm Island. Wir befinden uns in der Queen Char-
lotte Strait zwischen Vancouver Island und dem kanadi-
schen Festland. Von dem Walbeobachtungsboot aus
schaue ich Cracroft, Plumper und Kaikash zu. Seit beinahe
einer Stunde schwimmen die drei Orca-Männchen vor
unserem Bug herum und reiben sich dabei behutsam an
den kleinen, glatten Steinen vor dem Strand. Die drei
Brüder scheinen völlig darin vertieft. Doch bald werden sie
wegschwimmen – zur Lachsjagd oder um nach Weibchen
Ausschau zu halten.
Warum sich diese Schwertwale an den Steinen schub-
bern, wissen wir nicht. Vermutlich hilft es, abgestorbene
Haut und Parasiten loszuwerden. Vielleicht macht es den
Tieren auch einfach Spaß. Bei anderen Walen und selbst
bei anderen Orca-Verbänden sehen Forscher Strandschub-
bern (»beach rubbing«) eher selten. Es gehört aber zum
festen Repertoire der »northern residents«, eines Bestands
von Orcas, der den Sommer im nördlichen Gebiet um
Vancouver Island zu verbringen pflegt.
Der Schwertwal (Orcinus orca) – englisch »killer whale«,
Mörderwal, genannt – kommt in sämtlichen Weltmeeren
vor, von den Tropen bis weit in den Norden und Süden.
Und jede seiner diversen Populationen besitzt anscheinend
eigene kulturelle Gewohnheiten. Wie wissenschaftliche
Studien seit den 1970er Jahren ergaben, umfasst dies
praktisch alle Verhaltensbereiche – die Jagd ebenso wie
die Kommunikation. Übrigens unterscheiden sich die
einzelnen Gruppen auch äußerlich etwas, so in der Fär-

bung und Zeichnung, Körpergröße und Form der Rücken-
finne (siehe »Die Vielfalt der Orcas«, S. 40/41). Zwar sind
die Abweichungen im Aussehen nicht so markant wie die
im Verhalten, doch genetisch differieren die Populationen
nach Untersuchungen der letzten rund 15 Jahre teils
erstaunlich stark.
Viele meiner Kollegen und ich glauben daher, dass der
Schwertwal keine homogene Art oder Spezies nach klassi-
scher Auffassung bildet. Vielmehr scheint er sich gerade in
mehrere Spezies aufzuspalten. Falls dies so weitergeht,
könnten einzelne seiner Populationen allmäh–lich zu
vollständig getrennten Arten werden. Die wären dann
daran erkennbar, dass sie untereinander keine lebens-
oder zumindest fortpflanzungsfähigen Nachkommen mehr
erzeugen würden.
Ganz besonders fasziniert uns Forscher eines an den
Schwertwalen: Als treibende Kraft der Artbildung fungie-
ren bei ihnen womöglich kulturelle Unterschiede. Denn
tatsächlich sind Orcas hinsichtlich ihrer Sexualpartner
auffallend wählerisch: Sie scheinen sich fast ausschließ-
lich mit Artgenossen einzulassen, die weitgehend die
gleichen Gewohnheiten pflegen wie sie selbst. Sollte
dieser Verdacht zutreffen, würden uns die Schwertwale
einen Mechanismus der Artentstehung vorführen, den die
klassische Theorie zur Speziation nicht in Betracht zieht.
Nicht zuletzt könnten solche Einsichten Anthropologen
sogar besser verstehen lassen, wie es dazu kam, dass die
Vorläufer des Menschen und deren Verwandtschaft in
derart vielen Linien und Arten auftraten.

Der bekannte Weg der Artbildung:
Eigenständige Entwicklung bei räumlicher Trennung
Mehr als ein Jahrhundert lang haben Biologen die
Art bildung hauptsächlich im Zusammenhang mit geogra-
fischer Isolation gesehen. Demnach sind physische
Barrieren, wie ein Gebirge, eine Wüste oder zumindest
ein Fluss, notwendig, damit sich neue Spezies entwickeln
können. Evolutionsforscher sprechen hierbei von allo-
patrischer Artentstehung. Wenn sich also zwei Populatio-
nen derselben Art in räumlich getrennten Lebensräumen
wiederfinden und sich deshalb nicht mehr miteinander
fortpflanzen können, dann werden sie ihre eigenen Evolu-
tionswege einschlagen. Ihre Genpools verändern sich
nun unterschiedlich, und sie erwerben andere Umwelt-
anpassungen. Zu ihrer weiteren Entwicklung kann auch
eine so genannte genetische Drift beitragen, bei der
sich manche Mutationen zufällig – ohne spezielle Einflüsse
von außen – durchsetzen. In diesem Szenario kann das
Erbgut der beiden Populationen schließlich so weit vonein-
ander abweichen, dass die Individuen gegenseitig kein
sexuelles Interesse mehr haben, sollten sie wieder aufein-
andertreffen, oder zumindest zusammen keine fruchtbaren
Nachkommen mehr hervorbringen können.
Unzählige Beispiele aus der Tierwelt stützen diese
klassische Vorstellung. So entstanden manche der nahe
verwandten Arten von Pistolen- oder Knallkrebsen der
Gattung Alpheus beidseits des Isthmus von Panama ver-
mutlich infolge der Ausbildung der Landbrücke zwischen
Nord- und Südamerika. Und einzelne Spezies von Wüs ten-

AUF EINEN BLICK
NEUE ARTEN DURCH KULTUR?

1


In der klassischen Vorstellung entstehen neue Arten,
wenn sich zwei Populationen einer Ausgangsart
wegen einer geografischen Barriere nicht mehr begeg-
nen und deswegen anders weiterentwickeln.

2


Räumliche Schranken bestehen beim Großen
Schwertwal nicht. Trotzdem meiden die verschiedenen
Gruppen enge Kontakte mit anderen Populationen.
Trennend wirken bei ihnen kulturelle Gewohnheiten.

3


Sogar die Lautäußerungen sind verblüffend unter-
schiedlich – bis in die Familien hinein.

Rüdiger Riesch ist Dozent für Evolutions-
biologie am Royal Holloway College der
Univer sity of London. Er hat an der Universität
Hamburg Biologie studiert und an der Uni-
versity of Oklahoma promoviert. Als Forscher
befasst er sich mit den Hintergründen von
Biodiver sität und Artentstehung.
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