BIOLOGISCHE KOMPLEXITÄT
EVOLUTION
OHNE SELEKTION
Nach Ansicht mancher Forscher können auch ohne Selektionskräfte
komplexere biologische Strukturen und Lebewesen entstehen –
quasi als Nebeneffekt von zunächst unbedeutenden Fehlentwicklungen.
Carl Zimmer ist Wissenschafts-
journalist, Buchautor und
Kolumnist bei der »New York Times«.
spektrum.de/artikel /1257676
Als Charles Darwin (1809 –1882) die Grundidee seiner
Evolutionstheorie skizzierte, war er noch keine 30
Jahre alt. An die Öffentlichkeit trat er damit erst 1858,
und im Jahr darauf erschien sein berühmtes Buch »On the
Origin of Species by Means of Natural Selection« (Über
den Ursprung der Arten). In der Zwischenzeit hatte er auf
seinem Forschungsgebiet akribisch und methodisch Daten
und Hinweise aus aller Welt zusammengetragen und
eigene Studien durchgeführt. Er prüfte außerdem jedes
nur erdenkliche Gegenargument gegen seine Theorie einer
allmählichen Evolution. Bei dieser greifen Selektionskräfte
an der unterschiedlichen Anpassung von Lebewesen an
die Umwelt an – die wiederum auf durch Muta tionen
veränderten Merkmalen beruht. Viele Gedanken machte
sich Darwin darüber, wie unter den von ihm postu lierten
Voraussetzungen manche ziemlich komplexen Strukturen
überhaupt auftreten konnten.
Ein gutes Beispiel dafür ist das menschliche Auge. Es
besteht aus einer Anzahl ganz unterschiedlicher Kompo-
nenten – Netzhaut, Linse, Glaskörper, Muskeln und vielem
mehr –, die alle für die Gesamtfunktion unerlässlich sind.
Jedes Teil muss sich an der passenden Stelle einfügen und
genau die richtige Größe und Form haben. Ist nur ein
einziges davon defekt, kann dies das Sehen schwer beein-
trächtigen. Nach Darwin sollte unser Auge schrittweise
aus einfacheren Vorläufern hervorgegangen sein – wie
hochgradig absurd eine derartige Evolution vielen auch
vorkommen mochte.
Darwin skizzierte, wie er sich eine Entwicklung hin zu
einer komplexeren Struktur vorstellte. Voraussetzung sei,
dass die Merkmale zwischen den Individuen einer Art in
jeder neuen Generation etwas variieren. Manche Varianten
würden die Überlebenschancen erhöhen und dadurch oft
auch mehr Nachkommen bedeuten – wodurch in der
Population mit der Zeit der Anteil von Individuen mit den
vorteilhafteren Eigenschaften zunähme. Diese Merkmale
würden also selektiv begünstigt. Nach Darwin entsteht auf
diese Weise fortwährend Spielmaterial, aus dem allmäh-
lich durchaus komplexe Strukturen und Organe hervorge-
hen können.
Unser Auge entwickelte sich, so postulierte er, viel-
leicht aus einer flachen Ansammlung von lichtempfind-
lichen Zellen auf der Körperoberfläche, wie sie bei
einigen sehr einfachen Tieren vorkommt, zum Bei-
spiel Quallen. Der Sinnesfleck könnte sich später
unter Selektionseinfluss becherartig eingestülpt
haben, so dass sich nun auch die Lichtrichtung
erfassen ließ. Nach und nach kamen noch mehr
Elemente hinzu, die das Sehen weiter verbes-
serten und dem Organismus ermöglichten,
sich noch genauer auf seine Umwelt einzu-
stellen. Und indem alle kleinen Fortschritte an
die nächste Generation weiterge geben wur-
den, entstand schließlich ein immer komple-
xer gebautes Sehorgan. Bei diesem Szenario
waren sämtliche Zwischenformen für die Tiere
vorteilhafter als ihre unmittelbaren Vorläufer.
Im Großen und Ganzen bestätigt die moderne
Biologie Darwins Gedanken zur Entstehung von Kom-
plexität (siehe dazu auch »Das Auge – Organ mit Vergan-