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(Martin Jones) #1
genheit«, Spektrum Februar 2012, S. 22). Forscher können
solche Entwicklungen inzwischen selbst für hochkompli-
zierte mo lekulare Strukturen nachvollziehen. Beispielswei-
se lässt sich zeigen, dass ausgefeilte Gebilde aus mehre-
ren Proteinen, deren Funktion an Schleusen oder Tore,
Förderbänder oder Motoren erinnert, tatsächlich aus
ein facheren Vorläufern hervorgegangen sein können,
wobei die Zwischenstufen anscheinend selektiven Mecha-
nismen unterworfen waren.
Dennoch fragen sich manche Wissenschaftler, ob
Komplexität nur auf diese Weise entsteht. Einerseits ver-
muten sie eine dem Leben innewohnende Tendenz zur
Komplexitätssteigerung. Andererseits halten sie es für
möglich, dass sich mehr Komplexität ohne Beteiligung von
Selektionskräften als Nebeneffekt von Mutationen, also
zufälligen Veränderungen, herausbilden kann. Komplexe
Phänomene wären dann nicht immer Ergebnis eines
ständigen Zurechtfeilens von Strukturen unter Auslese-
druck über Jahrmillionen, sondern sie entstünden mitunter
einfach so.

Wie misst man Komplexität?
Zwar versuchen Biologen und Philosophen die Evolution
von Komplexität seit Jahrzehnten zu verstehen. Der
Paläobiologe Daniel W. McShea von der Duke University
in Durham (North Carolina) bemängelt jedoch die oft
unklare, allzu vage Verwendung und Definition des Be-
griffs. Zusammen mit dem Wissenschaftsphilosophen
Robert N. Brandon, einem Universitätskollegen, glaubt er:
Um den Komplexitätsgrad einer biologischen Erschei-
nung zu bestimmen, sollte man nicht einfach nur die
Anzahl der Teile des Systems betrachten, sondern auch
deren Verschiedenheit würdigen. Wären beispielsweise
die zehn Billionen Zellen des menschlichen Körpers alle
gleich, würden sie nur einen strukturlosen Haufen bilden.
Sie sind jedoch in Haut- und Muskelzellen, rote Blutkör-
perchen und so weiter differenziert. Selbst die Organe
bestehen oft aus diversen Zelltypen. Die Netzhaut etwa

enthält allein 60 Neuronensorten, von denen jede ihre
eigene Aufgabe hat. Schon so gesehen ist ein Mensch
komplexer als ein Schwamm mit vielleicht sechs Zell-
typen.
Ein Vorteil dieses Ansatzes: Mit ihm lässt sich die Kom-
plexität ganz unterschiedlicher Ebenen messen. Unser
Skelett besteht beispielsweise aus einer Anzahl von Kno-
chentypen, und obendrein hat jeder Knochen eine be-
stimmte Form. Allein das Rückgrat gliedert sich in mehre-
re ganz unterschiedliche Abschnitte: Dabei sehen die
Halswirbel, die den Kopf tragen, anders aus als etwa die
Brustwirbel, an denen die Rippen ansetzen.
In ihrem Buch »Biology’s First Law« erörtern McShea
und Brandon, wie eine so definierte Komplexität entstehen
könnte. Sie nehmen an, dass sich anfangs ziemlich gleiche
Teile – etwa eines Organismus – mit der Zeit unterschied-
lich weiterentwickeln, schon weil Gene manchmal mutie-
ren. Es kann außerdem vorkommen, dass ein Gen verse-
hentlich verdoppelt wird und das Duplikat nun seine
eigenen Mutationen anhäuft – und dass allein dadurch
mehr und unterschiedliche Teile entstehen. Ein Organis-
mus aus zunächst gleichen Teilen würde so langsam
komplexer.
Vermag sich der veränderte Organismus besser zu
behaupten als Artgenossen ohne die Mutation und hat
dadurch mehr Nachkommen, bedeutet dies, dass sich das
neue Merkmal durch natürliche Auslese in der Population
verbreitet. Zum Beispiel können Säugetiere eine ganze
Palette von Gerüchen auseinanderhalten. In ihrer Nasen-
schleimhaut sitzt eine große Anzahl unterschiedlicher
Rezeptoren, die jeweils auf andere Duftmoleküle anspre-
chen. Hier haben sich die zugehörigen Gene wiederholt
verdoppelt und sind anschließend unterschiedlich weiter-
mutiert. Manche Tiere mit einem sehr feinen Geruchsver-
mögen, etwa Mäuse oder Hunde, besitzen über tausend
Gene für spezifische Geruchs rezeptoren.
Manchmal stellt mehr Komplexität allerdings eine
Bürde dar. Würde beispielsweise ein Nackenwirbel so
verändert, dass man den Kopf kaum noch drehen kann,
wird sich die Mutation wohl kaum ausbreiten, denn betrof-
fene Indivi duen stürben eher und oft ohne Nachkommen.
Anders als in diesen Beispielen, die zur gängigen Auf-
fassung von Evolution passen, postulieren McShea und
Brandon nun aber: Eine Komplexitätszunahme kann selbst
ohne Beteiligung von Selektionskräften erfolgen. Sie
halten das sogar für ein grundlegendes biologisches
Gesetz – das »kraftfreie Evolutionsgesetz« (englisch:
zero-force evolutionary law).
Diese These haben McShea und seine Doktorandin
Leonore Fleming kürzlich an Laborstämmen der Taufliege
Drosophila überprüft, die Forscher seit über 100 Jahren
insbesondere für genetische und Entwicklungsstudien
benutzen und oft seit vielen Generationen züchten. Die
Laborpopu lationen wurden stets gut versorgt, sie erhielten
genügend Futter und hatten es immer warm, waren also
weder Nahrungsmangel, Wetterschwankungen noch
Feinddruck ausgesetzt. Wenn in wilden Drosophila-Popula-
tionen Muta tionen auftreten, die das Leben in der Natur
erschweren, merzen Selektionskräfte sie bald wieder aus,

AUF EINEN BLICK
WIE ENTSTEHT KOMPLEXITÄT?

1


Nach bisheriger Ansicht entstehen komplexere Struk-
turen schrittweise, wobei sich die Zwischenschritte
nach den Gesetzen der darwinschen Auslese als ver -
besserte Anpassungen bewähren müssen.

2


Vielleicht entsteht mehr Komple xität manchmal auch
auf andere Weise. Möglicherweise gibt es eine kraft-
freie Evolution, bei der neue Anpassungen auftreten,
ohne dass dabei Selektionskräfte mitwirken.

3


Mutationen, also zufällige Veränderungen, die sich auf
den Organismus nicht auswirken, könnten dennoch
die Komplexität von Strukturen vorantreiben: in einer
konstruktiven neutralen Evolution.
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