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(Martin Jones) #1

der dann funktionale kom plexe Strukturen entstehen
könnten, die dem Über leben dienten.
Bei dem Wort Komplexität mögen einem Paläontologen
wie McShea als Erstes Fossilien und anatomische Struktu-
ren in den Sinn kommen, also zum Beispiel Knochen, die
sich zu einem Skelett zusammenfügen. Doch unabhängig
von der bisher vorgestellten Forschung verfolgen auch
Molekularbiologen seit einigen Jahren eine recht ähnliche
Sichtweise.


»Konstruktive neutrale Evolution« von Strukturen
Wissenschaftler um Michael Gray von der Dalhousie
University in Halifax (Nova Scotia, Kanada) fragen sich
bereits seit den 1990er Jahren, wieso Mutationen an
Molekülen so häufig offenbar keinerlei Auswirkungen auf
den Organismus haben, weder positive noch negative.
Evolutionsbiologen bezeichnen so etwas als neutral. Die
kanadischen Forscher vermuten, dass aus solchen Mutati-
onen mitunter komplexe molekulare Strukturen hervorge-
hen – und zwar ohne die vielen Zwischenschritte, von
denen jeder die Anpassung des Organismus an seine
Umwelt verbessern muss. Das betrachtete Phänomen
bezeichnen sie als »konstruktive neutrale Evolution«.
Einige neuere Studien scheinen die Thesen von Gray
und seinen Kollegen zu untermauern. Zu den führenden
Forschern auf dem Gebiet zählt Joe Thornton von der


University of Oregon in Eugene. Er untersucht bei Hefepil-
zen ein spezielles, aus mehreren Molekülen zusammenge-
setztes Transportsystem, das Ionen durch Zellmembranen
schleust: eine besondere Protonenpumpe, V-Typ-ATPase-
Komplex genannt, kurz auch V-ATPase. ATPasen sind
Enzyme, die aus dem Molekül ATP Energie für molekulare
Prozesse gewinnen. Das V steht für Vakuolen, flüssigkeits-
gefüllte Zelleinschlüsse, in deren Membran dieser Typ
zuerst entdeckt wurde.
Zu dieser Protonenpumpe gehört ein Ring aus insge-
samt sechs Proteinen, durch den die Protonen geschleust
werden. Genauer gesehen enthält der Sechserring drei
verschiedene Proteine: vier Stück Vma3 und je ein Vma11
und Vma16. Keines davon ist für die Schleusenfunktion
verzichtbar. Ganz ähnlich aufgebaute Protonenpumpen
besitzen auch Tiere – mit einem bemerkenswerten Unter-
schied: Ihr Sechserring enthält lediglich zwei verschiedene
Proteine, nämlich fünf Vma3 und ein Vma16. Nach Mc-
Shea und Brandon wären Pilze, was diese Struktur betrifft,
komplexer als Tiere.
Die Evolutionslinien von Tieren und Pilzen haben sich
vor ungefähr einer Milliarde Jahren getrennt. Wie die Gene
für die Ringproteine zeigen, ist das Protein Vma11 der Pilze
eng mit Vma3 verwandt. Die Forscher vermuten deswe-
gen, dass sich bei frühen Pilzen eine Genverdoppelung
ereignete, wobei eines von den beiden Genen später zu

SUREN MANVELYAN / SCIENTIFIC AMERICAN AUGUST 2013

Das menschliche Auge entstand auf »klassischem« Weg: unter steter Beteiligung von Selektions-
kräften in vielen kleinen Evolutionsschritten, die das Sehen immer mehr verfeinerten.
Doch nicht zwangsläufig treten komplexe Strukturen und Organe nur auf diese Weise auf.

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