dem für Vma11 wurde. Thornton und seine Kollegen re-
konstruierten das gemeinsame Vorläufergen für Vma3 und
Vma11 und erstellten anhand dessen das zugehörige
Protein, wie es vermutlich vor 800 Millionen Jahren aus-
sah. Sie nannten es Anc.3-11 (für englisch: ancester,
Vorläu fer).
Das rekonstruierte »alte« Gen bauten sie in Hefe-
zellen ein, deren Gene für Vma3 und Vma11 sie ausschal-
teten. Und tatsächlich konnten die Zellen überleben:
Sie bildeten nun Protonenpumpen mit Ringen aus Vma16
und Anc.3-11.
Anhand ihrer Befunde entwarfen die Forscher ein
Szenario zur Evolution des Ringsystems bei Pilzen. Dem-
nach wies der Sechserring in der betreffenden Protonen-
pumpe anfangs ebenfalls nur zwei Proteine auf – und zwar
die gleichen beiden wie bei Tieren. Diese Proteine waren
noch ziemlich vielseitig: Sie konnten rechter und linker
Hand sowohl mit ihresgleichen als auch mit dem anderen
Protein Bindungen eingehen und so einen Sechserring
bilden. Nachdem sich das Gen für Anc.3-11 verdoppelt
hatte, änderte sich daran zunächst nichts. Doch im Lauf
der Zeit mutierten die beiden Zwillingsgene unter anderem
derart, dass Vma11 nun auf einer Seite keine Bindung
mehr mit Vma3 eingehen kann. Gleiches gilt für Vma3
bezüglich Vma16. Funktionierende Ringe können die drei
Proteine aber nach wie vor miteinander bilden. Insofern
handelt es sich um neutrale Mutationen. Al lerdings ist der
Ring nun komplexer gestaltet, weil er drei verschiedene
Proteine benötigt, die sich außerdem nur in einer Weise
anordnen können.
Trotz ungenügender Gene
die »richtigen« Proteine herstellen
Damit wäre erfüllt, was das kraftfreie Evolutionsgesetz
vo raussagt. Wichtig dabei ist, dass keine Selektion im
Sinn Darwins an dieser Entwicklung teilhatte: Denn hier
musste sich nicht eine Reihe von Zwischenstufen bewäh-
ren. Vielmehr verschaffte dem Proteinring ein Verlust oder
Rückgang von Vielseitigkeit seiner Komponenten mehr
Komplexität.
Ein weiteres Beispiel für eine konstruktive neutrale
Evolution fand Gray beim so genannten Editieren – Bear-
beiten – von Genabschriften, bevor diese für Proteine
abgelesen werden. Die DNA-Sequenz eines Gens bildet
zwar die Vorlage für die Umschrift in einen RNA-Strang,
nur ist dieser oft so noch nicht brauchbar. Beispielsweise
ersetzen beim RNA-Editing Enzyme in der Regel manche
der Bausteine, der Nukleotide, durch andere. Ohne solche
Maßnahmen würden die nach dieser Vorlage hergestellten
Proteine nicht funktionieren. Da fragt man sich, wieso die
Gene nicht gleich die korrekte Sequenz vorgeben.
Gray stellt sich die Evolution des Phänomens folgender-
maßen vor: Zuerst entstand durch Mutation zufällig ein
Enzym, das RNA-Bausteine austauschen konnte. Es richte-
te keinen Schaden an, brachte aber auch keinen Vorteil –
zumindest nicht zu Beginn. Weil es harmlos war, blieb es.
Doch dann mutierte ein Gen auf fatale Weise. Nun kam
die Stunde des Enzyms: Es vermochte die ungünstige Ab-
schrift zu »bereinigen«, also die Mutation im Gen zu kom-
pensieren. Auf die Weise konnte das veränderte Gen
trotz des Defekts bestehen bleiben und sich sogar in der
Population ausbreiten. Laut Gray ist in diesem Szenario
keine Selektion im Spiel. Seiner Ansicht nach entstand das
Mehr an Komplexität quasi von allein, auf neutrale Weise.
Und als die Neuerung erst überall aufgetaucht war, ließ sie
sich nicht mehr loswerden.
Nach Einschätzung des Biochemikers David Speijer von
der Universität Amsterdam haben Gray und seine Kollegen
mit dem Konzept der konstruktiven neutralen Evolution der
Biologie einen Dienst erwiesen. Für wertvoll hält er insbe-
sondere den Einwand, dass nicht alle komplexen Erschei-
nungen Selektionsvorteile mit sich bringen. Andererseits
befürchtet Speijer jedoch, die Forscher könnten mit ihren
Deutungen manchmal zu weit gehen. Die Protonenpum-
pen bei Pilzen hält er für ein überzeugendes Beispiel einer
konstruktiven neutralen Evolution. Aber im Fall des RNA-
Editing meint er, hier dürfe man nicht die Möglichkeit
außer Acht lassen, dass an dieser Evolution vielleicht doch
eine Selektion teilhatte, selbst wenn die gesteigerte Kom-
plexität uns überflüssig erscheine.
Weder Gray noch McShea und Brandon möchten der
natürlichen Selektion ihre bedeutende Rolle für das Entste-
hen von biologischer Komplexität absprechen. Allerdings
sollten mehr Forscher zumindest in Erwägung ziehen, dass
komplexere Erscheinungen auch ohne Zutun von Selekti-
onskräften entstehen können, weil Mutationen sie manch-
mal von allein hervorbringen. In Grays Worten: »Wir
leugnen Anpassung ja gar nicht. Wir glauben nur nicht,
dass sie alles erklärt.«
Dieser Artikel entstand in Zusammenarbeit mit
»Quanta Magazine«, einer eigenständigen Abteilung
von SimonsFoundation.org.
QUELLEN
Finnigan, G. C. et al.: Evolution of Increased Complexity in a
Molecular Machine. In: Nature 481, S. 360–364, 2012
Lukeˇ s, J. et al.: How a Neutral Evolutionary Ratchet Can Build
Cellular Complexity. In: IUBMB Life 63, S. 528 – 537, Juli 2011
McShea, D. W., Brandon, R. N.: Biology’s First Law: The Tendency
for Diversity and Complexity to Increase in Evolutionary Systems.
University of Chicago Press, 2010
LITERATURTIPP
Evolution. Wie sie die Geschichte des Lebens geformt hat.
Spektrum Spezial Biologie, Medizin, Hirnforschung 1/2014
Theoretische Abhandlungen und praktische Studien zu Fragen
der Evolution
WEBLINKS
http://www.simonsfoundation.org/quanta
Informationen über »Quanta Magazine«
scientificamerican.com/aug2013/hidden-mutations
Ein englischsprachiger Beitrag über die Bedeutung neutraler Mutati-
onen bei Krankheiten
http://www.spektrum.de/artikel/1257676
Weblinks zu drei englischsprachigen Rezensionen des Buchs von
McShea und Brandon