SdWSBMH0217

(Martin Jones) #1

Die Krankheit Chorea Huntington


beruht auf einem Evolutionsparadox:


Ein auffällig ver längerter Abschnitt


im verantwortlichen Gen ist für unsere


Hirnentwicklung unerlässlich. Zu viel


des Guten führt dagegen in die Kata-


strophe.


 spektrum.de/artikel/1427445


Chiara Zuccato (links) und
Elena Cattaneo haben
Professuren an der Univer-
sität Mailand am Institut
für Biowissenschaften. Die
Expertinnen für Huntington
zählten schon zu den Auto-
rinnen eines Artikels über
die Krankheit bei Spektrum
im Januar 2004.


Mitarbeiter von Lebensversicherungen pflegen mög-
liche Erkrankungsrisiken genau zu prüfen, und gene-
tische Tests liefern hierüber eine Menge Informatio-
nen. Jedoch be schlossen britische Versicherungsunterneh-
men Anfang der 2000er Jahre, dass sie solche Daten bei
Vertragsabschlüssen unter bestimmten Voraussetzungen
nicht nutzen wollen. Mit einer Ausnahme: der Veranlagung
für Chorea Huntington, früher Veitstanz genannt.
Denn die Wahrscheinlichkeit dafür, dass Träger von
gewissen Varianten des Gens dieser Krankheit einmal
erliegen werden, ist viel höher als bei anderen Risikofak-
toren wie Rauchen, Alkoholkonsum oder Motorradfahren.
Gegenmittel gibt es bislang so gut wie keine. Die ersten
Symptome treten meistens im Alter zwischen 30 und
50 Jahren auf, manchmal später, mitunter aber sogar viel
früher – was anscheinend davon abhängt, wie stark das
Gen von der Norm abweicht. Oft machen sich anfänglich
Stimmungsschwankungen oder Gedächtnisstörungen
bemerkbar, zu denen bald unwillkürliche Zuckungen,
unkontrollierte Bewegungen der Gliedmaßen und Spas-
men, auch im Gesicht, hinzukommen. Typisch für dieses
Stadium ist der absonderlich zappelnde, »tanzende«
Gang. Mit der Zeit gehen sämtliche Körperfunktionen
verloren. Am Ende, oft etwa 15 bis 20 Jahre nach dem
Ausbruch, ist der Patient völlig bewegungsunfähig, kann
sich nicht mehr äußern und nicht einmal mehr schlucken.

Ein lebensnotwendiges Gen von großer Variabilität
Schuld an der Krankheit sind Mutationen in einem Hun-
tingtin genannten Gen, was Forscher schon seit mehr als
zwei Jahrzehnten wissen. Dieses Gen und das gleichna-
mige Protein Huntingtin besitzen wir alle: Es ist für die vor-
geburtliche Entwicklung des Nervensystems unerlässlich.
Allerdings unterscheidet sich seine Länge geringfügig
von Mensch zu Mensch. Das erklärt, wieso manche Indi-
viduen erkranken und andere nicht.
Genauer gesagt weist dieses Gen in einem bestimmten
Abschnitt mehrfach hintereinander das gleiche Dreier-
paket von Nukleotiden (DNA-Bausteinen) auf, nämlich die
Folge C-A-G für die Kernbasen Cytosin, Adenin und Gua-
nin. Dieses »Triplett« kodiert die Aminosäure Glutamin. Bei
gesund bleibenden Personen kommt es hier zwischen 8-
und 35-mal vor. Entsprechend lang ist die Glutaminkette im
Huntingtin-Protein. Liegt die Anzahl in einem der beiden
von den Eltern vererbten Huntingtin-Gene höher, so tritt die
Krankheit auf, die 1872 der New Yorker Arzt George Hun-
tington (1850 – 1916) erstmals beschrieb. Wer einen betroffe-
nen Elternteil hat, muss also mit 50 Prozent Wahrschein-

Die Amöbe Dictyostelium
vermehrt sich über Fruchtkör-
perbläschen. Schon sie
besitzt das Gen Huntingtin.

USMAN BASHIR, QUELLER/STRASSMANN RESEARCH GROUP AT WASHINGTON UNIVERSITY IN ST. LOUIS (COMMONS.WIKIMEDIA.ORG/WIKI/FILE:DICTYOSTELIUM_DISCOIDEUM_43.JPG) / CC BY-SA 4.0 (CREATIVECOMMONS.ORG/LICENSES/BY-SA/4.0/LEGALCODE)
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