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(Martin Jones) #1

Merkmal, das in verschiedenen Familien mit einer Häufig-
keit von 90 Prozent auftritt, nicht so einfach mit den Re-
geln klassischer Genetik erklären.
Da allerdings der winzige Embryo Vorläufer von Keim-
bahnzellen enthält, die sich später zu Spermien oder Eiern
entwickeln, vermutete ich, dass die Chemikalien auch
diese Vorläuferzellen in Mitleidenschaft gezogen hatten.
Die Schädigung wäre dann erhalten geblieben, als daraus
Spermien oder Eier wurden – und schließlich Nachkom-
men. Falls dies der Fall wäre, hätte die kurze chemische
Exposition die Hodenprobleme der Enkelgeneration direkt
verursacht. Zukünftige Generationen sollten wieder ganz
normal sein.
Um die Vermutung zu testen, züchteten wir eine vierte
Generation und dann noch eine fünfte, jedes Mal ebenfalls
mit nicht verwandten Nachkommen der ursprünglich
exponierten Ratten, damit die Merkmale nicht verwässert
würden. Aber auch bei den Urenkeln und Ururenkeln litten
die männlichen Tiere unter ähnlichen Problemen.
Ich war von diesen Ergebnissen schockiert: Die Symp-
tome gingen bei allen Generationen auf eine einzige, nur
kurz einwirkende, allerdings hohe Dosis an gängigen
Agrochemikalien zurück, die schon seit Jahrzehnten auf
Obst- und Gemüseplantagen, Weinberge und Golfanlagen
gespritzt werden. Über mehrere Jahre hinweg wiederhol-
ten wir die Experimente viele Male, um sie zu bestätigen
und weitere Beweise zu sammeln. Für uns war die plausi-
belste Erklärung, dass die Exposition zu einer Epimutation
führt, welche die Hodenentwicklung in männlichen Embry-
onen beeinträchtigt. Diese Epimutation würden die Sper-
mien an die Zellen des sich entwickelnden Embryos wei-
tergeben, darunter auch an die Keimzellenvorläufer und
somit an die nächste Generation. Im Jahr 2005 publizier-
ten wir die Ergebnisse im Fachjournal »Science«, gemein-
sam mit unserer Hypothese zur Epimutation und ersten
Hinweisen darauf, dass die Chemikalien die Methylierung
an verschiedenen wichtigen Stellen der DNA in den Sper-
mien der Nachkommen verändert hatten.
Eine stürmische Debatte entbrannte. Unter anderem
hatten sowohl Wissenschaftler in Unternehmen, die
Vinclozolin vertreiben, als auch eine industrieunabhängige
Studie Schwierigkeiten, einige unserer Ergebnisse zu
reproduzieren. Wahrscheinlich nutzten die Forscher hier
andere expe rimentelle Methoden – verfütterten etwa die
Chemikalien, statt sie zu spritzen, verwendeten Inzucht-
stämme oder kreuzten die betroffenen Rattenmännchen
mit Weibchen ohne exponierte Vorfahren, was das Merk-
mal in den Folgegenerationen unterdrückt.
Inzwischen haben sich jedoch reichlich Beweise dafür
angesammelt, dass Epimutationen über mehrere Generati-
onen erhalten bleiben können. Laut weiteren Untersuchun-
gen in meinem Labor weisen die Urenkel fungizidbehan-
delter Ratten veränderte Methylierungsmuster in ihrem
Sperma, ihren Hoden und Eierstöcken auf sowie eine
abnorme Genaktivität in den Keimzellenvorläufern. Wir
stellten außerdem fest, dass diese Nachkommen der
vierten Generation zu Gewichtszunahme und Ängstlichkeit
neigen; sie wählen sogar ihre Partner anders. Mittlerweile
haben wir und andere Wissenschaftler die Liste der Auslö-


ser um weitere Schadstoffe und Stressfaktoren erweitert.
Zudem ließen sich Vererbungen erworbener Eigenschaften
bei einer großen Bandbreite an Organismen beobachten,
zum Beispiel bei Pflanzen, Fliegen, Würmern, Fischen und
Schweinen.
In jüngeren Experimenten setzten wir trächtige Ratten
jeweils einem folgender Schadstoffe aus: Dioxin, Kerosin,
einem Insektenschutzmittel sowie einer Kombination aus
Bisphenol A (BPA) und Phthalaten. Letztere kommen in
Kunststoffen vor, die auch bei Lebensmittelverpackungen
und Zahnfüllungen Verwendung finden. In allen Fällen

wiesen die Nachkommen der vierten Generation vererbli-
che Störungen auf, beispielsweise einen abweichenden
Verlauf der Geschlechtsreife, Fettleibigkeit und Erkrankun-
gen der Eier stöcke, Nieren oder Prostata. Wir haben zudem
auf Grund solcher Stoffe hunderte Veränderungen im
DNA-Methylierungsmuster in Spermien beobachtet. Die
Auswirkungen folgen nicht den klassischen genetischen
Vererbungsregeln, weshalb wir überzeugt sind, dass ihnen
Epimutationen zu Grunde liegen – und keine Veränderun-
gen der DNA-Sequenz.
Kaylon Bruner-Tran und Kevin Osteen von der Vanderbilt
University School of Medicine untersuchten ebenfalls die
Auswirkungen von Dioxin auf Mäuse und stellten fest,
dass etwa die Hälfte der Töchter der exponierten Mutter-
tiere unfruchtbar waren. Jene, die trächtig wurden, hatten
oft Frühgeburten. Die Fortpflanzungsprobleme hielten sich
über mindestens zwei weitere Generationen.

Persönlichkeitsveränderungen durch Bisphenol A
Zwar liegen die in diesen Untersuchungen verwendeten
Chemikalienmengen weit über denen, die man normaler-
weise aus einem kontaminierten Umfeld aufnimmt. Jen-
nifer Wolstenholme und andere Forscher der University of
Virginia School of Medicine entdeckten jedoch auch ge-
nerationsübergreifende Auswirkungen von Dosen, die
unseren Alltagserfahrungen eher entsprechen. Sie verab-
reichten Mäusen mit der Nahrung so viel BPA, dass ihre
Blutspiegel vergleichbar solchen waren, wie sie bereits
bei schwangeren Amerikanerinnen gemessen wurden.
Die Nachkommen der Tiere verbrachten weniger Zeit mit
der Erforschung ihrer Käfige und beschäftigten sich
stattdessen mehr mit ihren Artgenossen – ein Effekt, der
sich bis hin zur fünften Generation nachweisen ließ. Die
Wissenschaftler vermuten, dass ihm eine veränderte
Aktivität der Gene für die Hormone Oxytozin und Vaso-

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ISTOCK / CHRIS DASCHER
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