Spektrum der Wissenschaft - Oktober 2017

(Tuis.) #1

sich aber womöglich noch schwieriger aufspüren als die
MACHOs. Auch nach jahrzehntelanger Suche mit Teil-
chenbeschleunigern, unterirdischen Detektoren und
Weltraumteleskopen ist bisher keine Spur der WIMPs
aufgetaucht. Daher wandten sich einige Forscher wieder
der MACHO-Hypothese zu, insbesondere den primordialen
Schwarzen Löchern. Doch welcher Vorgang konnte diese
seltsamen Objekte über das ganze beobachtbare Univer-
sum verstreut haben, und wieso waren sie so lange unent-
deckt geblieben?


Als sich subatomare Schwankungen
enorm vergrößerten
Die britischen Kosmologen Bernard Carr und Stephen
Haw king ersannen primordiale Schwarze Löcher schon in
den 1970er Jahren. Sie untersuchten solche mit einer
Masse unterhalb derer irdischer Berge, doch derart winzi-
ge Vertreter ihrer Art wären längst verschwunden. Im
Lauf der rund 14 Milliarden Jahre langen Geschichte
unseres Universums müssten sie durch einen von Haw-
king entdeckten quantenmechanischen Prozess, die
Hawking-Strahlung, restlos verdampft sein. Die Physiker
zogen allerdings bereits die Möglichkeit in Betracht, deut-
lich massereichere Schwarze Löcher, die langsamer ver-
dampfen, könnten noch immer existieren.
Die Idee, solche primordialen Objekte würden zur Dunk-
len Materie beitragen, untersuchten Theoretiker in den
1990er Jahren näher. Dabei stützten sich die Wissen-
schaftler auf das Konzept der kosmischen Inflation. Anfang
der 1980er Jahre hatte der US-Physiker Alan Guth erstmals
die Vorstellung, unmittelbar nach dem Urknall habe es eine
kurze Phase enormer Expansion gegeben. In nur 10 –35 Se-
kunden wurden demnach zwei weniger als einen Atomradi-
us voneinander entfernte Punkte um vier Lichtjahre aus-
einandergerissen – also auf eine Entfernung, die unserer zu
den nächsten Sternen entspricht. Dabei vergrößerte die
Inflation winzige Quantenfluktuationen auf makroskopische
Maßstäbe und übersäte das wachsende Universum mit
unterschiedlich dichten Materie- und Energiegebieten, aus
denen alle heutigen Strukturen hervorgingen. Die Inflations-
theorie mutet zwar bizarr an, wird aber nach Ansicht der
meisten Kosmologen durch die Beobachtung von Fluktuati-
onen in der kosmischen Hintergrundstrahlung gestützt.
1996 entdeckte einer von uns (García-Bellido) zusam-
men mit Andrei Linde von der Stanford University in Kali-
fornien und David Wands von der University of Portsmouth
in England, dass die Inflation im Spektrum der Dichtefluk-
tuationen des frühen Universums schmale Spitzen erzeugt
haben kann (siehe Infografik S. 16/17). Wie wir zeigten,
sollten inflationär aufgeblähte Quantenfluktuationen be-
sonders dichte Regionen schaffen, die weniger als eine
Sekunde nach dem Ende der Inflation zu einer Schar
Schwarzer Löcher kollabieren. Diese werden dann zu
Dunkler Materie und bilden den größten Teil des Materie-
gehalts im heutigen Universum. Das Modell erzeugte eine
Population von Schwarzen Löchern mit gleicher Masse, die
von dem in der kollabierenden Region enthaltenen Energie-
betrag abhängt. Bald wandten viele andere Teams die Idee
auf unterschiedliche Inflationsmodelle an.


2015 entwickelten wir (Clesse und García-Bellido) ein
ähnliches Szenario wie das von 1996, bei dem die pri-
mordialen Fluktuationen jedoch statt scharfer Spitzen ein
breites Maximum der Energiedichte aufweisen und zu
Schwarzen Löchern ganz unterschiedlicher Masse führen.
In diesem Szenario kollabieren eng benachbarte große
Dichtefluktuationen zu Clustern von diversen Schwarzen
Löchern mit einem Hundertstel bis zu dem 10 000-Fachen
der Masse unserer Sonne. Binnen einer halben Million
Jahre nach dem Urknall kann jeder sich entwickelnde
Cluster in einem Volumen, das sich bloß über einige
hundert Lichtjahre erstreckt, Millionen von primordialen
Schwarzen Löchern enthalten.
In den Clustern liegen die Schwarzen Löcher so dicht
beisammen, dass die von LIGO entdeckte Verschmelzung
keine unwahrscheinliche Ausnahme mehr bildet. Von Zeit
zu Zeit kommen sich zwei davon nahe, umkreisen einan-
der unter dem Zwang ihrer Schwerkraft auf immer enge-
ren Bahnen und senden dabei Gravitationswellen aus. Wir
sagten im Januar 2015 voraus, LIGO würde die Gravita-
tionswellen solch massereicher Verschmelzungen entde-
cken – wie es im Herbst dann tatsächlich der Fall war.
Sollten LIGO und andere Anlagen innerhalb der kommen-
den Jahre viele ähnliche Ereignisse aufzeichnen, lassen
sich daraus die Massen und Drehimpulse der beteiligten
Schwarzen Löcher abschätzen, und eine statistische
Analyse könnte dann überprüfen, ob die Objekte mögli-
cherweise primordialen Ursprungs sind.
Dieses Szenario hat gegenüber der alten MACHO-
Hypothese den großen Vorteil, dass es den beteiligten
Massen keine Obergrenze auferlegt. MACHOs bis zu etwa
zehn Sonnenmassen können dem beobachteten Mikrolin-
seneffekt zufolge nicht den Hauptteil der Dunklen Materie
ausmachen. Hingegen besitzen primordiale Schwarze
Löcher alle möglichen Massen, von denen sich nur ein
Bruchteil durch den Mikrolinseneffekt bemerkbar macht,
während der Großteil unsichtbar bleibt. Und wenn die
primordialen Schwarzen Löcher Cluster bilden, beträgt die
Wahrscheinlichkeit weniger als ein Promille, zufällig in der

AUF EINEN BLICK
WORAUS BESTEHT DIE DUNKLE MATERIE?

1


Das Wesen des unsichtbaren Stoffs, der durch seine
Schwerkraft die Galaxien zusammenhält, ist noch
immer ein Rätsel.

2


Viele Forscher vermuten dahinter hypothetische,
schwach wechselwirkende Masseteilchen. Die experi-
mentelle Suche nach solchen Objekten blieb bisher
allerdings vergeblich.

3


Eine andere Erklärung bieten – ebenfalls rein theore-
tisch – »primordiale« Schwarze Löcher vom Anbeginn
des Kosmos. Gravitationswellen von deren Verschmel-
zung könnten nun Hinweise auf ihre Existenz liefern.
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