Spektrum der Wissenschaft - Oktober 2017

(Tuis.) #1

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nigen anderer – väterlicher – Zellen durchmischt und bleibt
daher über alle folgenden Generationen im Wesentlichen
gleich, und die Abstammung ist gut erkennbar. Mehr
noch: Wegen dieses typischen Vererbungsmusters kommt
es häufig dazu, dass nach einiger Zeit die meisten Mitglie-
der einer Population die gleiche mtDNA besitzen, fast alle
also letztlich die gleichen Mitochondrien haben.
Genau das war anscheinend bei den europäischen
Neandertalern der Fall. Bei ihnen hatte sich offenbar die
mitochondriale DNA eines frühen Homo sapiens einge-
schlichen und schließlich durchgesetzt. Vielleicht war das
nur Zufall, vielleicht boten ihnen diese Gene aber auch
gewisse Überlebensvorteile. Denn im Kontrast dazu steht
der Befund, dass die neue Menschenform aus Afrika wohl
keine bleibenden Spuren im Zellkerngenom der Neander-
taler hinterließ. Zellkerngene des frühen Homo sapiens im
Genpool der europäischen Neandertaler wären also nach
der Einkreuzung wieder verschwunden, während die
fremden Mitochondrien zurückblieben.


Durch die DNA von der Alb bekommen die wider-
sprüchlichen Stammbäume einen Sinn
Laut Posth und seinen Kollegen könnte ihre Studie einen
bisher rätselhaften genetischen Widerspruch bei der
Ermittlung der Verwandtschaft zwischen Neandertaler und
Homo sapiens klären. Das Paradox hatte sich erst in den
letzten Jahren aufgetan, als Paläogenetiker immer mehr
Daten zum Erbgut verschiedener Frühmenschen gewan-
nen. Wie die Wissenschaftler nämlich verblüfft erkannten,
erhält man für die frühen Eurasier abweichende Stamm-
bäume, je nachdem ob man die DNA des Zellkerns ver-
gleicht oder die der Mitochondrien. Die Kern-DNA besagt,
dass sich die Linien von modernem Menschen und Nean-
dertaler schon vor mindestens 550 000 Jahren voneinan-
der getrennt haben müssen, eher sogar etwa 100 000
Jahre früher. Nach der Mitochondrien-DNA geschah die
Aufspaltung erst vor frühestens 470 000 Jahren. Die große
Diskrepanz ließe sich nur dann begreifen, wenn jene


mtDNA nachträglich zu den Neandertalern gekommen
wäre. Die große Frage war jedoch, wann die beiden
Menschen linien wohl aufeinandergestoßen sind.
Darüber gibt die neue Studie nun Aufschluss. Den
Paläogenetikern war es bisher lediglich gelungen, mtDNA
relativ später europäischer Neandertaler zu sequenzieren.
Das Fossil aus der Hohlenstein-Stadel-Höhle ist mit
Abstand das bisher älteste dieser Menschenform, für das
sie mitochondriale Erbgutsequenzen bestimmt haben. Wie
die aktuelle Untersuchung erwies, besaß dieser Früh-
mensch von der Schwäbischen Alb, der vor rund 120 000
Jahren lebte, bereits die »neuen« Mitochondrien. Aller-
dings spricht seine mtDNA für eine recht weit zurücklie-
gende Abspaltung seiner Vorfahren von der Linie, die zu
den späten Neandertalern führte. Die Trennung wäre nach
den Analysen vor mindestens 220 000 Jahren und wohl
eher nahe an 400 000 Jahren anzusetzen. Das dürfte
demnach etwa die Zeitspanne sein, in der Vertreter des
frühen Homo sapiens Erbgut nach Europa brachten –
wenigstens 200 000 bis 300 000 Jahre vor der großen
Einwanderungswelle anatomisch moderner Menschen.
Noch eine weitere Erkenntnis ziehen die Forscher aus
der mtDNA des Neandertalerknochens von der Hohlen-
stein-Stadel-Höhle: Die eigenständige Entwicklung dieser
Linie über Jahrzehntausende und der Vergleich mit Erbgut-
sequenzen anderer Neandertaler zeugt davon, dass ihre
genetische Vielfalt über lange Zeitabschnitte größer und
die Zahl der Individuen höher war, als ihre viel besser
untersuchte Endphase glauben macht. Genaueres könnte
die Zellkern-DNA aus dem Oberschenkelknochen liefern.
Doch leider ist es den Forschern noch nicht gelungen, aus-
reichend Sequenzen für eine Analyse zu isolieren.
Jan Dönges ist Redakteur bei Spektrum.de in Heidelberg.

QUELLE
Posth, C. et al.: Deeply Divergent Archaic Mitochondrial Genome
Provides Lower Time Boundary for African Gene Flow into Neander-
thals. In: Nature Communications 8, 16046, 2017

Dieser Oberschenkelknochen eines Neandertalers aus der Hohlenstein-Stadel-Höhle ist rund 125 000 Jahre alt.
In ihm aufgespürte DNA-Sequenzen belegen Kontakte der Neandertaler mit dem frühen Homo sapiens.

FOTO: OLEG KUCHAR © PHOTO MUSEUM ULM

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