Spektrum der Wissenschaft - Oktober 2017

(Tuis.) #1

FORSCHUNG AKTUELL


SPRACHEVOLUTION


DAS VERBORGENE


SPRACHTALENT DER AFFEN


Ihre anatomischen Voraussetzungen für bestimmte
Sprachlaute sind günstiger als gedacht.


Florida, 1947: Das Forscherehepaar Catherine und
Keith Hayes adoptiert Viki kurz nach ihrer Geburt und
zieht sie mit einem eigenen Kind auf. Viki spielt gern
im Garten und liebt es, herumzutoben. Doch Sprechen
lernt sie nie richtig. Als sie zweieinhalb Jahre als ist, haben
die Hayes ihr mühsam vier Wörter beigebracht: »mom-
my«, »daddy«, »cup« (Tasse) und »up« (rauf, im Sinn von
huckepack nehmen).
Denn Viki ist eine Schimpansin – der erste Menschen-
affe, der systematisch Sprachunterricht erhält. Dabei
formen die Hayes ihr mit den Fingern die Lippen. Diesen
Trick übernimmt die Schimpansin und nutzt ihn auch
später noch. Sprechen fällt ihr sichtlich schwer.
Die Artikulation von Sprachlauten erfordert nicht nur
passende Lippenstellungen, sondern eine Vielzahl fein
koordinierter Bewegungen im gesamten Stimmtrakt. Bei
stimmhaften Lauten, also den Vokalen und manchen
Konsonanten, bringt der Kehlkopf zudem die ausströmen-
de Luft in Schwingung. Zunge, Mund-Rachen-Nasen-
Raum und Lippen formen dann einzelne Laute und dämp-
fen oder verstärken die Frequenzen. Forscher fragen sich
seit Langem, ob Affen nicht sprechen können, weil ihr
Gehirn die Abläufe nicht mit der notwendigen Präzision zu
steuern vermag – oder weil sie die komplexen Stellungen
und Bewegungen rein anatomisch nicht zu Stande bringen.
Der Mund-Rachen-Raum von Affen unterscheidet sich
von dem des Menschen. Ihr Vokaltrakt ist kürzer und der
Kehlkopf nicht permanent abgesenkt wie bei uns. Fehlende
Voraussetzungen in diesem Bereich hielten viele Forscher
deshalb zunächst für ein Haupthindernis zum Sprechen.
Diese These unterstützte Ende der 1960er Jahre eine Studie
des amerikanischen Linguisten und Kognitionsforschers
Philip Lieberman. Am Abdruck des Stimmtrakts eines
verstorbenen Rhesusaffen hatte er mit einem Computer-
modell ermittelt, welche Laute dem Tier möglich gewesen
wären. Lieberman schloss aus seinen Befunden, dass
Affen über ein sehr eingeschränktes Lautrepertoire verfü-
gen und diverse Vokale gar nicht produzieren können.
Eine vergleichbare Untersuchung mit modernen Metho-
den an einem lebenden Affen veröffentlichte kürzlich ein
Team um den Evolutions- und Kognitionsbiologen Tecum-
seh Fitch von der Universität Wien. Von einem Javaner-
affen machten die Forscher beim Fressen, bei verschiede-
nen Gesichtsausdrücken und bei Vokalisationen Röntgen-
aufnahmen von Kopf und Hals. An diesen vermaßen sie
die räumlichen Verhältnisse in seinem Vokaltrakt und
somit seine natürlichen Möglichkeiten, den Mundraum zu
verändern. Sie ermittelten 99 unterschiedliche Konstellati-

onen und wählten davon diejenigen aus, die am stärksten
voneinander abwichen. So kamen sie auf fünf theoretisch
mögliche »Affen-Vokale«. Wie diese klingen würden,
errechneten sie mit einem Computermodell.
Fünf Laute erschienen den Forschern plausibel, da
auch viele menschliche Sprachen mit ungefähr dieser
Anzahl an Hauptvokalen auskommen. Die theoretischen
Affenvokale würden laut der Studie etwa so klingen
wie in den englischen Wörtern »bit«, »bet«, »bat«, »but«
und »bought«. Test personen konnten Simulationen der
errech neten Laute recht gut voneinander unterscheiden.
Der neuen Studie zufolge haben Affen ein achtmal
größeres phonetisches Potenzial, als Lieberman annahm.
Dem Forscherteam fiel aber auf, dass insbesondere ein
langes [i] fehlt, einer der so genannten extremen Vokale.
Speziell die Erzeugung eines [i] bringt den menschlichen
Stimm apparat an seine Grenzen. Wir bemerken es im
Alltag zwar meist nicht, doch Vokale klingen bei großen
Menschen anders als bei kleinen, da ihr Vokaltrakt länger
ist. Dass wir sie trotzdem als richtig wahrnehmen, liegt
daran, dass wir die extremen Vokale, und vor allem das
lange [i], als Bezugsgröße verwenden. Dieses dient somit
der besseren Verständigung.

Eigentlich könnten Affen verschiedene Vokale bilden –
und Konsonanten sowieso
Fitch glaubt, dass sich seine Ergebnisse auf andere Affen-
arten übertragen lassen. Eine zweite Studie – von For-
schern um den Neurolinguisten Louis-Jean Boë von der
Université Grenoble Alpes – stützt diese These. Das Team
zeichnete die Rufe von Guinea-Pavianen auf, untersuchte
also tatsächliche und nicht nur hypothetische Laute.
Davon sahen fünf im Sonogramm aus wie Vokale.
Nun gehören zu einer gesprochenen Sprache normaler-
weise neben den Vokalen die Konsonanten. Wenn sie feh-
len, leidet die Verständlichkeit von Wörtern meist viel mehr
als bei fehlenden Vokalen. An potenziellen Konsonanten
scheint es gerade den Menschenaffen aber nicht zu man-
geln. Affen produzieren, etwa mit den Lippen oder in der
Kehle, eine Palette von geräuschhaften, schmatzenden,
schnatternden, pustenden oder Stoßlauten. Auch die Zunge
könnte dabei beteiligt sein. Beim Menschen liegt diese
dank unseres permanent abgesenkten Kehlkopfs tiefer im
Rachenraum und lässt sich deswegen freier bewegen.
Laut Fitch senkt ein Affe jedoch regelmäßig seinen
Kehlkopf ab – und zwar dann, wenn er Laute von sich gibt.
Das dürfte ihn allerdings einige Energie kosten und nicht
so präzise Geräusche und Vokalisationen ermöglichen, wie
es der Mensch kann. Wie gut man die errechneten »Affen-
vokale« verstehen würde, testete Fitchs Team, indem es
anhand der Aufnahmen die Frage »Will you marry me?«
(Möchtest Du mich heiraten?) synthetisierte. Das Ergebnis
klingt zwar ziemlich befremdlich – ist aber verständlich
(http://tinyurl.com/affensatz). Bei Schimpansen würde der
Satz, so vermutet Fitch, der Menschensprache mehr
ähneln, schon weil sie größer sind und ihr Vokaltrakt fast
dieselbe Länge hat wie unserer. Auch haben sie eine
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