Spektrum der Wissenschaft - Oktober 2017

(Tuis.) #1

FORSCHUNG AKTUELL


30 Spektrum der Wissenschaft 10.17


CHEMIE


EIN KOHLENSTOFFATOM


MIT SECHS BINDUNGEN


Endlich gelang der experimentelle Nachweis:
Kohlenstoff kann unter bestimmten Bedin-
gungen sechs statt der üblichen vier chemischen
Bindungen eingehen.


An der Basis der Organik steht die grundlegende
Erkenntnis, dass Kohlenstoff immer genau vier Elek-
tronenpaarbindungen eingeht. Umso mehr reizt es
Chemikerinnen und Chemiker seit Jahrzehnten, Ausnah-
men von diesem eisernen Gesetz zu finden – also ein
Molekül, in dem Kohlenstoff an fünf oder gar sechs andere
Atome gebunden ist. Im November 2016 haben Konrad
Seppelt und sein Student Moritz Malischewski von der
HU Berlin einen solchen heiligen Gral dieser Forschungs-
richtung beschrieben: Sie haben erfolgreich das Hexa-
methylbenzol-Dikation isoliert, in dem ein Kohlenstoffatom
von insgesamt sechs Bindungspartnern umgeben ist
(siehe Bild unten).
Die zugehörige Struktur einer fünfseitigen Pyramide
hatte der niederländische Chemiker Hepke Hogeveen
bereits Anfang der 1970er Jahre vorausgesagt. Nach
seiner Theorie sollte sich der Kohlenstoff-Sechsring des
Benzols beim Verlust zweier Elektronen zu einem Fünfring
verkleinern, wobei das sechste Atom des Rings den
Schlussstein der Pyramide bildet. Spektroskopische Mes-
sungen brachten 1973 erste Hinweise auf die Richtigkeit
seiner Hypothese. Doch es sollte noch 43 Jahre dauern,
bis Malischewski und Seppelt genug von dem Stoff herge-
stellt hatten, um Kristalle zu züchten und an ihnen die
kuriose Molekülstruktur mittels Röntgenanalyse eindeutig
nachzuweisen.

Die alten Chemie-Lehrbücher deshalb gleich zu zerrei-
ßen, wäre jedoch voreilig, denn auch der sechsfach gebun-
dene Kohlenstoff hält sich streng an die etablierten Regeln,
wie Malischewski erklärt: »Das Kohlenstoffatom der
Pyramidenspitze ist zwar hexakoordiniert, aber nicht hexa-
valent, sondern tetravalent wie üblich.« Das heißt, den
sechs Bindungspartnern stehen keine sechs Elektronen-
paarbindungen gegenüber, sondern wie immer nur vier.
Wie die quantenmechanischen Berechnungen Hoge-
veens schon in den 1970er Jahren zeigten, ist die Pyrami-
denstruktur nicht nur möglich, sondern sogar die energie-
ärmste Variante – und das trotz des ungewöhnlichen
Kohlenstoffatoms. Die Umlagerung ist nämlich die einzige
Möglichkeit des Moleküls, seinen »aromatischen« Charak-
ter mit sechs über den Ring verteilten Elektronen zu be-
wahren. Danach liegt das System allerdings im Gegensatz
zu klassischen Aromaten wie Benzol nicht mehr in einer
Ebene: Das Atom an der Pyramidenspitze beteiligt sich
ebenfalls am Elektronensextett. Zusammen mit der klas-
sischen Bindung zur Methylgruppe ergibt das die gefor-
derten acht Elektronen (»Oktettregel«) der vier Elektronen-
paarbindungen des Kohlenstoffs.

Der Weg zu den exotischen Gebilden führte über
die stärksten Säuren überhaupt
Tatsächlich sind alle Versuche gescheitert, Kohlenstoff mit
mehr als acht Bindungselektronen auszustatten. Aber
auch schon das nicht ganz so ambitionierte Ziel, zumin-
dest mehr als die vier nach der Oktettregel möglichen
Bindungspartner zusammenzukriegen, erwies sich als
wahre Herkulesaufgabe. Pionier war der spätere Chemie-
Nobelpreisträger George Olah, dem es in den 1960er
Jahren gelang, Kohlenwasserstoffe zu protonieren, also
ein zusätzliches positiv geladenes Wasserstoffatom an
Methan und verwandte Verbindungen zu heften. Dazu
verwendete er Stoffe, die fast so exotisch sind wie fünfbin-
diger Kohlenstoff selbst: so genannte Supersäuren, im
Vergleich zu denen nahezu alles andere als Base wirkt.
Entsprechend instabil sind die Reaktionsprodukte, die
selbst zu den stärksten Säuren überhaupt gehören, wes-
halb man sie nicht isolieren und einer Strukturbestimmung
unterwerfen kann. Jedoch kam der entscheidende Durch-
bruch schließlich aus anderer Richtung – und mit ihm
begann ein zwei Jahrzehnte währender Streit.
Kohlenstoff mit mehr als vier Bindungspartnern war
zur Zeit von Olahs Experimenten schon seit einigen
Jahren bekannt. Bereits 1963 hatten Arbeitsgruppen aus
der Munitions- und Treibstoffindustrie die Carborane
entdeckt: ikosaederförmige Atomgruppen aus Bor und
Wasserstoff, die zwei Kohlenstoffe enthalten. In ihnen hat
jedes Bor- und Kohlenstoffatom im Käfig sechs Bindungs-
partner.
Paradoxerweise kommt die große Anzahl Bindungen zu
Stande, weil das Molekül besonders wenige Elektronen
enthält. Bor hat nur drei Elektronen übrig, kann aber wie
Kohlenstoff prinzipiell vier Bindungen eingehen. Deswe-
gen herrscht in Verbindungen des Elements ein chro-

Im Kristall bildet das Hexamethylbenzol-Dikation eine
penta gonal-pyramidale Struktur. Das Kohlenstoff-
atom an der Spitze ist an eine Methylgruppe sowie die
fünf basalen Kohlenstoff atome gebunden.

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT, NACH: MALISCHEWSKI, M., SEPPELT, K.:
DIE MOLEKÜLSTRUKTUR DES PENTAGONAL-PYRAMIDALEN HEXAMETHYLBENZOL-DIKATIONS

C6(CH3)62+ IM KRISTALL. IN: ANGEWANDTE CHEMIE 129, S. 374-376, 2017, FIG. 1

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