Spektrum der Wissenschaft - Oktober 2017

(Tuis.) #1
gemessene Streusignal. Darum sind möglichst große, ein-
heitliche Kristalle nötig. Anschließend ermitteln die For-
scher mit der Hilfe von Computerprogrammen die Art und
Position der Atome. Diese Methode wird als Röntgenkris-
tallografie beziehungsweise Röntgenstrukturanalyse be-
zeichnet. Unsere serielle Femtosekunden-Kristallografie
nutzt das gleiche Grundprinzip, funktioniert aber erheblich
schneller und mit kleineren Kristallen.
Dafür brauchen wir extrem intensive Röntgenstrahlen.
Das Licht unseres Röntgenlasers kann sogar Stahlblech
durchlöchern. Darum zerstört es zwangsläufig die Molekü-
le, deren Struktur wir aufklären möchten. Der kritische
Moment der SFX-Technik liegt in dem winzigen Zeitfenster
zwischen dem Auftreffen des Laserpulses auf dem Mole-
kül und dem Augenblick, wo die Energie des Strahls die
ersten Elektronen aus den Atomen herausschlägt. Von da
an stoßen sich nämlich die von ihren Elektronen befreiten
positiv geladenen Atomrümpfe gegenseitig ab und lassen
die Moleküle regelrecht explodieren. Die Herausforderung
besteht also darin, der schädigenden Wirkung der Laser-
strahlen zuvorzukommen und ein Bild aufzunehmen, bevor
sich die Anordnung der Atome merklich verändert hat –
inner halb von Femtosekunden. Zur Veranschaulichung
des Zeitfensters: Das Verhältnis von einer Femtosekunde
zu einer Sekunde entspricht dem von einer Sekunde zu
32 Millionen Jahren!

Erst beugen, dann zerstören – würde das bei
empfindlichen Biomolekülen funktionieren?
Zunächst züchten die Forscher kleinste Kristalle aus den
Proteinen. Darauf schießen sie dann beim Experiment
energiereiche Röntgenpulse. Schließlich erfasst ein Detek-
tor das jeweilige Beugungsmuster, dessen Form von der
Art und Position der Atome in dem Molekül abhängt.
Anhand der aufgenommenen Bilder einer ganzen Serie
von Pro teinkristallen, die in unterschiedlichen Winkeln von
den Röntgenstrahlen getroffen werden, lassen sich dann
3-D-Strukturen rekonstruieren. Aus Aufnahmen zu unter-
schiedlichen Zeitpunkten während eines Reaktionsablaufs
entstehen sogar Sequenzen wie in einem Film.
Erste Schritte in diese Richtung ermöglichten im Jahr
2000 die Biophysiker Janos Hajdu und Richard Neutze
von der Universität Uppsala in Schweden. Wie sie berech-
neten, würde es rund zehn Femtosekunden dauern, bis
ein von Röntgenstrahlen getroffenes Molekül zu explodie-
ren beginnt. Es wären also auch entsprechend schnelle
Schnappschüsse notwendig. 2006 gelang das einem
Team um Henry Chapman, der inzwischen am Deutschen
Elektronen-Synchrotron (DESY) in Hamburg arbeitet. Mit
dem Ansatz »erst beugen, dann zerstören« (»diffraction
before destruction«) bildeten die Forscher mit nur einem
intensiven Lichtblitz zwei winzige Strichmännchen und
eine ebenso winzige Sonne ab, die in eine Membran aus
Siliziumnitrid eingeritzt waren.
Aber würde dies auch bei empfindlichen Biomolekülen
funktionieren? Die meisten Forscher waren skeptisch, als
wir unsere Absicht kundtaten, es auszuprobieren. Unsere
ersten zehn Anträge auf Forschungsmittel wurden abge-
lehnt. Es gab Zweifel: Die Pulse der Röntgenlaser seien

AUF EINEN BLICK
CHEMIE IN EXTREMER ZEITLUPE

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Elektronen und Atome in Proteinen und anderen
komplexen Molekülen bewegen sich viel zu schnell,
als dass sich einzelne Reaktionsschritte mit her-
kömmlichen Methoden genauer verfolgen lassen.

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Intensive Lichtblitze von modernen Röntgenlasern hin-
gegen zerstören zwar die Proben, gewinnen dabei
aber wertvolle Informationen über die räumliche Struk-
tur während eines ultrakurzen Augenblicks.

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Aufwändig am Computer rekonstruierte Bilder zeigen
detailliert, warum etwa Arzneimittel manchmal
nicht optimal auf ihren Zielrezeptor passen oder wie
die pflanzliche Fotosynthese Energie erzeugt.

fen. Als dann die ersten Bilder der gebeugten Röntgen-
strahlen auf den Computermonitoren auftauchten,
brach im gesamten Raum Jubel aus. Wir hatten ein neues
Ka pitel in der Forschung aufgeschlagen.
Vor der Entwicklung der Methode waren Wissenschaft-
lern bereits bedeutende Fortschritte beim Nachweis be-
stimmter chemischer Umordnungen gelungen. Die beson-
ders filigranen und komplizierten biologischen Strukturen
hingegen konnten sie nicht in Aktion verfolgen. Beispiels-
weise erfand der spätere Nobelpreisträger und inzwischen
verstorbene ägyptische Chemiker Ahmed Zewail in den
1980er Jahren eine Möglichkeit, Atome während chemi-
scher Reaktionen mit ultrakurzen Laserblitzen zu beobach-
ten. Aber noch war die Wellenlänge des verwendeten
Lichts zu groß, um Einzelheiten innerhalb von Protein-
strukturen zu erkennen.
In jüngerer Zeit haben dramatische Fortschritte bei
verschiedenen Mikroskopietechniken Aufnahmen von
Proteinen und Viren in nahezu atomarer Auflösung ermög-
licht. Die Belichtungszeiten sind jedoch nicht kurz genug,
um solch rasche Reaktionen festzu halten, wie sie etwa
während der Fotosynthese ablaufen.
Wir entschieden uns für Röntgenlicht, da es die prin-
zipiell erforderlichen kurzen Wellenlängen und Impuls-
dauern hat, um biologische Prozesse zu verfolgen. Am
wichtigs ten für unsere Arbeit war die Entwicklung einer
Technologie, bei der die Röntgenstrahlen Informationen
über die Struktur auslesen – und zwar noch bevor sie
die Moleküle zerstören.
Üblicherweise züchten Wissenschaftler, die sich mit
Strukturanalysen beschäftigen, in einem langwierigen
Prozess Kristalle von Proteinen und anderen Molekülen.
Sie lassen dann Röntgenstrahlen auf die so präparierte
Probe prallen und zeichnen auf einem Detektor dahinter
das Beugungsmuster auf. Die im Gitter regelmäßig an-
geordneten Moleküle lenken die Photonen in charakteris-
tischer Weise ab, und umso mehr identische Strukturen
das auf gleiche Weise tun, desto deutlicher erscheint das
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