Spektrum der Wissenschaft - Oktober 2017

(Tuis.) #1


Vor gut 14 700 Jahren begann sich die Welt drama­
tisch zu verändern: Eine globale Erwärmung beendete
die letzte große Kaltzeit (umgangssprachlich als Eis­
zeit bezeichnet). Vor allem in der Nordhemisphäre waren
die Auswirkungen enorm: Die Gletscher schmolzen, Wald­
land verdrängte die eisigen Tundren, und der Meeresspie­
gel stieg im Lauf der nächsten Jahrtausende weltweit um
bis zu 115 Meter. Seitdem trennt nicht nur die Nordsee
Großbritannien vom Festland. In Südostasien verschwand
sogar eine Landmasse von der Größe Westeuropas; dabei
entstand unter anderem der Golf von Tonking vor Viet­
nams Küste. Für die Jäger und Sammler Europas brach
eine neue Zeit an, die innovative Jagdstrategien erforderte.
Anhand zahlreicher Fundstellen können Prähistoriker
diesen Wandel für Westeuropa inzwischen im Detail nach­
vollziehen (siehe »Umbrüche am Ende der Eiszeit«,
Spektrum Spezial Archäologie Geschichte Kultur 1/2017,
S. 6 –13).
Im Fall Vietnams ist die Faktenlage deutlich schlechter.
Etliche Lager­ und Siedlungsplätze dürften im heutigen
Schelfgebiet liegen, das heißt unter Wasser und Schlick
verborgen sein. Obendrein herrschte schon vor Jahrtau­
senden ein subtropisches bis tropisches Klima in der
Region, in dem organische Überreste schnell verrotteten,
sofern sie nicht durch einen glücklichen Zufall in ein
feuchtes, sauerstoffarmes Bodenmilieu gerieten.
Wir wissen nicht einmal genau, seit wann Menschen in
der Region lebten. Es gibt nur Anhaltspunkte: Menschli­
chen Skelettresten zufolge erreichte der Homo sapiens vor
spätestens 40 000 Jahren Australien, und da er von Afrika
kommend über das südliche Asien dorthin gezogen sein
muss, dürfte er auch Vietnam passiert haben. Dieser The­
se entsprechen die Überreste zweier Individuen in der
Tam­Pa­Ling­Höhle im benachbarten Laos, deren Datie­
rung allerdings umstritten ist.
Gerade im Norden Vietnams boten die Höhlen und
Felsdächer der Kalkgebirge den kleinen Gruppen umher­
streifender Wildbeuter Schutz gegen Raubtiere und

Witterung. In den 1920er Jahren, als das Land Teil der Ko­
lonie Französisch­Indochina war, entdeckten der Geologe
Henri Mansuy und die Archäologin Madeleine Colani in
Höhlen der nördlichen Provinzen Bac Son und Hoa Binh
entsprechende archäologische Hinweise. Jedoch erst seit
den 1960er Jahren wird intensiver nach Spuren steinzeitli­
cher Wildbeuter gesucht. So sind bis heute einige hundert
Siedlungsplätze ans Licht gekommen, die aus der Zeit­
spanne von vor 25 000 bis 7000 Jahren stammen, also
nach europäischer Chronologie aus dem jüngeren Ab­
schnitt der Altsteinzeit und der Mittelsteinzeit. Meist im
Zuge größerer, tief in die Erdschichten eingreifender
Bauvorhaben stoßen Archäologen auch in Mittel­ und
Südvietnam immer wieder auf entsprechende Stätten. Sie
liegen häufig unter meterdicken Sedimentpaketen begra­
ben, denn der Meeresspiegel war so weit gestiegen, dass
sich die Küste vor 5000 Jahren im Vergleich zu heute
etliche Kilometer weiter landeinwärts befand. Nach wie
vor gibt es deshalb die meisten Fundstellen in den höher­
gelegenen Kalkgebieten des Nordens, insbesondere in
Hoa Binh.

40 000 Jahre alte Küchenabfälle an Küsten und Flüssen
zeugen von Muschel- und Schneckenmahlzeiten
Das nach der Provinz benannte Hoabinhian ist die be­
kannteste altsteinzeitliche »Kultur« Vietnams. Ihr Verbrei­
tungsgebiet umfasste nach heutigem Wissen aber fast
ganz Südostasien mit Südchina, und darüber hinaus Teile
von Nepal und Australien. Die jüngst entdeckte, mit über
43 000 Jahren älteste Fundstelle mit eindeutigen Hoa­
binhian ­Werkzeugen – aber leider keinen menschlichen
Überresten – befindet sich in Südchina, bei Xiaodong.
Doch nicht nur in Karstgebieten hinterließen die Men­
schen Spuren, sondern auch an Küsten und Flussläufen:
mehrere Meter dicke Abfallschichten von Schnecken­
gehäusen und Muschelschalen, die eindrücklich Zeugnis
ablegen über die frühere Sammeltätigkeit. Dergleichen
kennt man auch von europäischen Küsten; der dänische
Zoologe Japetus Steenstrup prägte dafür im 19. Jahr­
hundert den Begriff »Kjökkenmöddinger«, zu Deutsch
»Küchenabfallhaufen«.
Nicht einmal ein halbes Prozent aller archäologischen
Hinterlassenschaften des Hoabinhian besteht aus pflanz­
lichen oder tierischen Hartmaterialien. Das lässt jedoch
keinesfalls den Schluss zu, diese Jäger hätten keine hölzer­
nen Speere oder Knochenspitzen gekannt – die schnelle
Vergänglichkeit dieses Materials im feuchtwarmen Klima
erklärt diesen Befund hinreichend. Auffällig ist aber, dass
die entdeckten Steinwerkzeuge sehr einfach, ja geradezu
primitiv wirken. Europas Wildbeuter verstanden es, Ab­
schläge in unterschiedlichster Form, zum Beispiel als
lange, schmale Klinge gezielt von einer Feuersteinknolle
abzuhauen. Die Längskanten oder Enden dieser Abschläge
wurden retuschiert, das heißt durch Schlag oder Druck
mit einem Stein, Knochen­ oder Geweihstück zu einem
Stichel, Bohrer, Schaber oder Messer umgestaltet. Im
Hoabinhian hingegen begnügte man sich zumeist damit,
Flusskiesel, Gerölle oder Felsgestein grob zu bearbeiten.
Dafür haben die Menschen nur wenige Teile vom Aus­

AUF EINEN BLICK
GESELLSCHAFT IM GLEICHGEWICHT

1


Anders als im eiszeitlichen Europa entwickelten Jäger
und Sammler in Vietnam und im angrenzenden Süd­
ostasien keine ausgefeilten Steinwerkzeuge, sondern
verwendeten vor allem grob bearbeitete Geröllgeräte.

2


Anhand der Typen von Steinwerkzeugen unterschei­
den Prähistoriker die drei Industrien Son vian,
Hoabinhian und Bacsonian. Vieles spricht dafür, dass
sie keine aufeinanderfolgenden Stufen darstellen.

3


Das Fundgut mag täuschen: Die wichtigsten Werk­
stoffe waren sicherlich Bambus und Holz. Auch wirk­
ten sich die Klimaveränderungen in Vietnam schwä­
cher aus, erzeugten also nur wenig Anpassungsdruck.
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