Spektrum der Wissenschaft - Oktober 2017

(Tuis.) #1

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MIKROORGANISMEN
AUF DER SPUR DER
ERSTEN VIREN


Eine Mikrobe aus der
Antarktis könnte Wissen-
schaftlern helfen, den
Ursprung von Viren zu
entschlüsseln. Dieser
beschäftigt Biologen seit
Langem: Sind die infekti-
ösen Partikel Vorfahren von
Organismen und somit älter
als das zelluläre Leben?
Oder entwickelten sich die
ersten Viren aus Bakterien,
nachdem diese die Erde
schon in Besitz genommen
hatten? Für beide Szenarien
gibt es gute Argumente,
schließlich sind Viren im

Grunde nur von einer
Schutzhülle umgebene
Erbgut-Transporter. Damit
sind sie viel einfacher
gebaut als zelluläre Mikro-
organismen. Andererseits
entfalten Viren ihr Potenzial
erst, wenn sie in Zellen
eindringen können und dort
Kopien von sich anfertigen.
Ein Team um Ricardo
Cavicchioli von der Univer-
sity of New South Wales in
Australien glaubt nun
Fortschritte in dieser Frage
gemacht zu haben. Die
Mikrobiologen haben eine
auf den Rauer-Inseln in
der Ostantarktis lebende,
zu den Archaeen zählende
Mikrobe analysiert. Im
Inneren von Halorubrum

lacusprofundi R1S1 ent-
deckten die Forscher eine
ringförmige DNA. Solch
ein Plasmid kann sich
unabhängig vom Erbgut der
Mikrobe replizieren.
Eigentlich sind Plasmide
in Bakterien nicht unge-
wöhnlich. Oft steuern sie
hilfreiche Eigenschaften bei,
beispielsweise Resis tenzen.
Das Archaeen- Plasmid mit
der Bezeichnung pR1SE
hat allerdings eine unge-
wöhnliche Funktion: Es
kodiert für Proteine, mit
denen der DNA-Ring eine
kleine Blase um sich selbst
bildet, ein so genanntes
Vesikel. Darin kann das
Plasmid die Zelle verlassen
und in andere, bis dahin

plasmidfreie Archaeen
eindringen und diese »infi-
zieren«.
Damit ähnele pR1SE
einem Virus, so die Mikro-
biologen. Eine weiter-
entwickelte Variante des
Plasmids, die irgendwann
die zusätzliche Eigenschaft
erworben hat, eine feste
Hülle zu bilden, wäre dem-
nach als genereller Vorgän-
ger der Viren denkbar. Das
wiederum würde nahe-
legen, dass sich Viren erst
nach den Bakterien und
Archaeen entwickelt hät-
ten – um dann aber recht
schnell eine große Rolle zu
spielen.
Nat. Microbiol. 10.1038/s41564-017-
0009-2, 2017

BIOLOGIE
EPIGENETIK BEI DARWINFINKEN


Darwinfinken der Art Geospiza fortis, die in bewohn-
ten Gebieten der Galapagosinseln leben, sind offen-
bar größer als ihre Artgenossen in der Wildnis – und
das, obwohl nur zehn Kilometer die Lebensräume der
Populationen trennen. Ein Forscherteam um Michael
K. Skinner von der Washington State University hat in
den Jahren 2008 bis 2016 etwa 800 der Tiere eingefan-
gen und physische Merkmale erfasst. Demnach sind
»urbane« Darwinfinken nicht nur fünf Prozent schwerer
als ihre ländlichen Artgenossen, auch ihre Schnäbel
sind einen halben Millimeter größer.
Die Wissenschaftler fanden jedoch keinen nennens-
werten Unterschied in den DNA-Sequenzen der Popu-
lationen. Stattdessen hält es das Team für möglich,
dass epigenetische Prägungen die Finken in der Zivili-
sation verändert haben. Zur Epigenetik zählen Biologen
Funktionsänderungen von Genen, die nicht auf Muta-
tionen der DNA-Sequenz beruhen, möglicherweise
aber trotzdem vererbt werden. Sie gehen auf Umwelt-
faktoren zurück, beispielsweise die Ernährung.
Konkret untersuchten die Forscher eine bestimmte
Form von chemischer Veränderung des Erbguts, die so
genannte Methylierung. Sie zählt zu den bekanntesten
epigenetischen Modifikationen. Bei ihr docken Methyl-
gruppen an Nukleinbasen der DNA an. Wenn Erb-
gutsequenzen methyliert sind, können die dort befind-
lichen Gene unterdrückt oder auch aktiviert werden.

Tatsächlich stieß das Team um Skinner bei den
urbanen Darwinfinken auf deutliche Unterschiede in
der Methylierung. Sie könnten eine Erklärung für die
Größe der urbanen Vögel sein, spekulieren die For-
scher. Dafür spricht, dass sich die epigenetischen
Veränderungen bei den Darwinfinken schnell verbreitet
zu haben scheinen. Nennenswerte Siedlungen gibt
es auf den Galapagosinseln erst seit gut 50 Jahren.
Noch ist allerdings offen, wie die entdeckten DNA-
Methylierungen die veränderten Körpermerkmale der
Darwinfinken hervorbringen sollen.
BMC Evol. Biol. 10.1186/s12862-017-1025-9, 2017

Die Ernährung von Mittel-Grundfinken könnte die Funktion
mancher Gene verändern.

PUTNEYMARK / MEDIUM GROUND FINCH, SANTA CRUZ (WWW.FLICKR.COM/PHOTOS/PUTNEYMARK/1351694843) / CC BY-SA 2.0 (CREATIVECOMMONS.ORG/LICENSES/BY-SA/2.0/LEGALCODE)
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