Spektrum der Wissenschaft Spezial - Biologie Medizin Hirnforschung Nr3 2017

(Ann) #1
AUF EINEN BLICK
GENETISCHER RUBIKON

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Mit neuen biotechnischen Verfahren lässt sich schon
bald der genetische Kode von Samenzellen verändern,
um männliche Unfruchtbarkeit zu behandeln.

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Solche Genomveränderungen würden an zukünftige
Generationen weitergegeben. Damit wäre eine geneti­
sche Keimbahntherapie eingeführt – und ethisch
wie juristisch betrachtet eine rote Linie überschritten.

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Viele Wissenschaftler beschwichtigen mit dem Argu­
ment, die Technik sei noch nicht ausgereift. Andere
glauben jedoch, dass diese Entwicklung schon bald
bevorsteht und unvermeidlich ist.

damit die Gene menschlicher Embryonen zu verändern,
was für Aufruhr sorgte. Die Schlagzeilen der Medien­
berichte dazu offenbarten das verbreitete gesellschaft­
liche Unbehagen über die Experimente und weckten
Ängste, sie könnten zu Designerbabys und genetischer
Aufrüstung führen.
Im Vergleich dazu stellt die bescheidene Samenzelle ein
viel weniger umstrittenes Ziel dar. Und da die Veränderung
des Erbguts in einem Embryo technisch nach wie vor
schwierig ist, meinen viele Experten, dass man sich der
Keimbahnmodifikation wohl leichter und risikoärmer in
einem früheren Stadium nähern kann: bereits bei den
Keimzellen, die sich erst danach zur Zygote vereinigen.
Aber auch dann beeinflusst man schon das menschliche
Genom auf Dauer, denn alle Änderungen bleiben in den
aus den Keimzellen entstandenen Embryonen erhalten.
Orwig gehört zu den wenigen Biologen, die Erfahrung
mit dem Abwandeln und Verpflanzen von Spermatogonien
haben – jenen Stammzellen, aus denen die Samenzellen
hervorgehen. Hätte er Erfolg, wäre das nicht nur für
Betroffene interessant, sondern auch für die In­vitro­Fertili­
sationsbranche (IVF), die 2015 allein in den USA einen
geschätzten Umsatz von zwei Milliarden Dollar und welt­
weit sogar rund das Zehnfache erzielte.
Die aktuelle Debatte um die Keimbahnmodifikation mag
manchen irgendwie bekannt vorkommen. Anfang der
1970er Jahre entdeckten Biologen, wie man DNA mit
Enzymen aus Bakterien zerschneiden und wieder zusam­
menfügen kann. Dieser DNA­Rekombination genannte
Durchbruch weckte Befürchtungen, gefährliche gentech­
nisch veränderte Mikroorganismen könnten aus den
Labors entkommen. Die Konsequenz war 1974 ein beispiel­
loses, freiwilliges Moratorium.
1975 kam es dann zu einer historischen Wissenschaft­
lerkonferenz im kalifornischen Asilomar. Dort diskutie­
rten angesehene Molekularbiologen wie David Baltimore,
der damals am Massachusetts Institute of Technology
arbeitete, über die Sicherheit der neuen Methode, und das
führte zu staatlichen Richtlinien für die gentechnische

Forschung. In der Folge entwickelte sich die Biotechnolo­
gie zu einer Branche, die das späte 20. Jahrhundert ent­
scheidend prägte.
Die Öffentlichkeit begrüßte zwar 1974 die Entscheidung
der Wissenschaftlergemeinde, inmitten einer hektisch
voranstürzenden Forschungsphase eine Auszeit zu neh­
men, aber viele Experten hielten das für eine Überreaktion
auf rein hypothetische Sicherheitsbedenken. So sprach
James D. Watson, der Mitentdecker der Doppelhelixstruk­
tur der DNA, von sinnloser Hysterie.

Fernsehteams verfolgten die Möchtegernkloner
bis auf die Toilette
Seit der Asilomar­Konferenz haben umstrittene biologische
Forschungsarbeiten häufig großen Aufruhr in der Öffent­
lichkeit verursacht, worauf aufwändige Tagungen folgten,
oft allerdings mit irritierenden Begleiterscheinungen. Eine
Konferenz über das Klonen von Menschen wurde 2001 zu

einem Medienzirkus: Außenseiter unter den Reprodukti­
onsmedizinern schworen, sie würden Menschenbabys
klonen; Fernsehteams verfolgten die Möchtegernkloner
überall hin – bis auf die Toilette. Im selben Jahr verkündete
das Magazin »Wired« gar auf seiner Titelseite: »Irgendje­
mand wird in den nächsten zwölf Monaten einen Men­
schen klonen.«
Dieses Mal herrschen unter Wissenschaftlern zwar
spürbar ungute Gefühle, aber gleichzeitig argwöhnen sie,
ein weiteres selbst auferlegtes Moratorium könne den
Fortschritt zu sehr hemmen. Die Folge? Wieder eine
Tagung. Im Dezember 2015 veranstalteten die National
Academy of Sciences und die National Academy of Medi­
cine gemeinsam in Washington ein internationales »Gip­
feltreffen« mit der Royal Society aus Großbritannien und
der chinesischen Wissenschaftsakademie.
Baltimore räumte dabei ein, die Veränderung des
menschlichen Erbguts sei deshalb undenkbar geblieben,
weil die ersten Generationen gentechnischer Hilfsmittel
schwerfällig und ineffizient gewesen seien. »Aber im Lauf
der Jahre ist das Undenkbare vorstellbar geworden, und
heute haben wir das Gefühl, dass wir kurz davor stehen,
in die Vererbung der Menschen eingreifen zu können«,
sagte er. Die übergeordnete Frage, so Baltimore weiter,
lautet: »Wollen wir als Gesellschaft diese Fähigkeit nut­
zen, und wenn ja, wie?«
Die Antwort schien für alle, die wie ich die ganze drei­
tägige Konferenz miterlebten, einhellig zu lauten: Wir sind
uns nicht sicher, aber wir haben auch noch viel Zeit, in
Ruhe darüber nachzudenken. Zahlreiche Vorträge, unter
anderem des Genomforschers Eric Lander vom Broad
Institute des MIT und der Harvard University, wiesen nach­

Die akzeptierte Gentherapie könnte


die Voraus setzungen für einen


folgenschweren Wandel schaffen

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