Spektrum der Wissenschaft Spezial - Biologie Medizin Hirnforschung Nr3 2017

(Ann) #1

drücklich auf die technischen Hürden hin sowie auf die feh­
lende medizinische Notwendigkeit von Keimbahnmodi­
fikationen beim Menschen zumindest für die absehbare
Zukunft.
Ein Moratorium nach dem Vorbild von Asilomar haben
die Organisatoren geschickt umschifft. Baltimore verlas
eine sorgfältig formulierte Mitteilung der Tagungsorganisa­
toren, laut der es unverantwortlich sei, derzeit aus klini­
schen Gründen in die menschliche Keimbahn einzugreifen.
Am Ende des Gipfeltreffens erklärte er, die Organisatoren
hätten bewusst darauf verzichtet, ein Verbot oder einen
Aufschub zu fordern. Die Grundlagenforschung könne und
solle ungehindert fortgesetzt werden, aber die Öffentlich­
keit brauche sich keine Sorgen über unmittelbar bevorste­
hende Entwicklungen zu machen: Solche Eingriffe an
Menschen wären unnötig, unklug und sicher nicht in
nächster Zukunft zu erwarten.
So sehen es allerdings nicht alle Wissenschaftler. Die
Organisatoren der Tagung in Washington präsentierten
das Thema mit den Worten »wann, wenn überhaupt«.
Aber wenn man in privaten Gesprächen mit Biologen nach
den Aussichten menschlicher Keimbahnveränderung fragt,
hört man häufig ein anderes Wort: »unausweichlich«.
In den Augen mancher Forscher wie des Biologen
George Church von der Harvard Medical School war die
Konferenz von Washington ein Versuch, den Status
quo zu erhalten. »Im Grunde wollen sie die Öffentlichkeit
beruhigen«, sagt Church. »Das war ihr Ziel, egal was
gesagt wurde. Ich will zwar ebenfalls niemand aufwie­
geln, aber auch nicht einfach ruhigstellen. Ich will, dass
Klarheit darüber herrscht, wohin die Sache läuft.« Und
die Öffentlichkeit, so Church, muss jetzt anfangen,
über Genmodifikationen beim Menschen nachzudenken,
denn der wissenschaftliche Fortschritt stößt bereits an
diese rote Linie.
Church und andere sind davon überzeugt: Zwar regu­
liert eine Fülle internationaler Vorschriften die Forschung
an menschlichen Embryonen, aber die genetische Verän­
derung von Keimzellen im Reagenzglas (fachlich In­vitro­


Gametogenese, IVG) hat in den letzten Jahren große Fort­
schritte gemacht. Und das, ohne der gleichen peniblen
Prüfung in der Öffentlichkeit unterzogen zu werden oder
ähnliche ethische Bedenken auszulösen wie die Gen­
manipulation an Embryonen.
»Technologisch gesehen ist alles startklar«, sagt der
Bioethiker I. Glenn Cohen von der Harvard Law School. Ina
Dobrinski, eine Expertin für Reproduktionsbiologie an der
University of Calgary, die sich mit der Genmanipulation an
Schweinen und anderen großen Tieren beschäftigt, fügt
hinzu: »Theoretisch können wir es. In der Praxis traut sich
wegen der ethischen Fragen niemand heran.«

»Masturbation gilt nicht als Völkermord«
Angenommen, die Keimbahnveränderung wäre trotz aller
Bedenken und gesetzlicher Verbote in vielen Ländern
wirklich unausweichlich – wie könnte sie dann konkret
ablaufen? Nach Churchs Ansicht wird der Keimbahn­Rubi­
kon bei den zahlreichsten und damit entbehrlichsten Zel­
len des menschlichen Organismus, den Spermien, über­
schritten werden, weil diese nicht die gleichen ethischen
Bedenken und Emotionen hervorrufen wie Embryonen
oder auch Eizellen. Der gleichen Ansicht ist Bioethiker
Cohen: »Masturbation gilt nicht als Völkermord.«
Church glaubt auch, dass nicht CRISPR als solches,
sondern ganz allgemein die Gentherapie die Voraussetzun­
gen für den folgenschweren Wandel schaffen wird, da
diese schon akzeptiert ist. Die US­Regulationsbehörde FDA
hat bereits Dutzende entsprechender klinischer Stu dien
zugelassen, allerdings nur für somatische Zellen – das
heißt solche, die nicht zur Keimbahn gehören. »Genthe­
rapie wird heute bei Kleinkindern angewendet und zukünf­
tig bei immer noch jüngeren stattfinden«, erläutert er.
Einen sehr öffentlichkeitswirksamen Fall gab es zum Bei­
spiel Ende 2015 in Großbritannien: Wissenschaftler hatten
gentechnisch die Immunzellen eines Babys verändert, um
damit dessen Leukämieerkrankung zu bekämpfen.
Samenzellen genetisch zu verändern, erklärt Church,
wird Paaren die Belastung ersparen, dass nach einer

Die Gene menschlicher
Embryonen zu verän-
dern, ist sehr schwierig.
Samenzellen dürften
ein leichteres Ziel für
Keimbahnmodifikationen
darstellen.

GETTY IMAGES / NEIL HARDING
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