Spektrum der Wissenschaft Spezial - Biologie Medizin Hirnforschung Nr3 2017

(Ann) #1
QUELLEN
Bosley, K. S. et al.: CRISPR Germline Engeneering –
The Community Speaks. In: Nature Biotechnology 33,
S. 478–486, Mai 2015
Gassei, K., Orwig, K. E.: Experimental Methods to Preserve Male
Fertiliy and Treat Male Factor Infertility. In: Fertility and Sterility 105,
S. 256–266, 2016
Rogers, M.: The Pandora‘s Box Congess. In: Rolling Stone,


  1. Juni 1975
    Zhou, Q. et al. : Complete Meiosis From Embryonic Stem Cell­
    Derived Germ Cells in Vitro. In: Cell Stem Cell 18,
    S. 330–340, 2016


Ethische Hürden stehen insbesondere in der Fort­
pflanzungsmedizin gelegentlich im Verdacht, ein
Verfallsdatum zu haben, das eher an Lebensmittel­
kennzeichnung denn an Gesetzgebung erinnert. Droht
der Mensch durch den biotechnologischen Fortschritt
zu einem ganz anderen Wesen zu werden, das mögli­
cherweise gesünder, aber nicht mehr menschlich ist?
Beim Zugriff auf unsere Erbsubstanz könnte damit so
etwas scheinbar Altmodisches wie die Menschenwür­
de auf der Strecke bleiben.
In der anlaufenden juristischen und ethischen De­
batte um die CRISPR/Cas­Technik zeichnen sich zwei
Lager ab: Auf der einen Seite stehen die Naturwissen­
schaftler, zumeist Befürworter eines sich rasant be­
schleunigenden biotechnologischen Fortschritts, der
offensive bis aggressive Züge trägt und stets zum
Handeln drängt. Auf der anderen Seite die eher unfrei­
willig defensiven Sozial­ und Geisteswissenschaftler,
die sich als Bedenkenträger vor allem einer Kultur der
Reflexion verpflichtet fühlen.
Mittlerweile ist auf beiden Seiten jedoch die Einsicht
gewachsen, dass die Debatte um die Zukunft der
Gentechnologie viel zu wichtig ist, um sie allein den
Naturforschern zu überlassen. Auch kristallisiert sich
zunehmend heraus, dass es kein absolutes Ja oder
Nein hinsichtlich der Gentechnologie geben kann.
Damit lässt sich aktuell folgende Zwischenbilanz zur
bioethischen Debatte hier zu Lande ziehen:
1.Der biotechnologische Fortschritt, insbesondere die
fortpflanzungsmedizinische Praxis, hat unseren Bezug
zum Leben verändert. Es ist nicht absehbar, welche der
historisch gewachsenen und bislang kulturell fest


verankerten Normen und Werthaltungen uns weiterhin
als Richtschnur des Handelns dienen können.
2.Bislang hat sich die Forschung ihren huma nen
Impuls bewahrt. In Deutschland hat die Politik zudem
über Jahrzehnte hinweg Ethik, Recht und Moral auf die
unverändert gültigen Werte der Humanität verpflichtet;
der Gesetzgeber hat eine Entkoppelung von Men­
schenwürde und Lebensschutz verhindert.


  1. ünftig wird sich kaum noch ein moralischer KonK ­
    sens mit der bloßen Berufung auf die Grundrechte –
    ins besondere auf die Menschenwürde – erzielen lassen.
    Wir werden daher vermehrt mühsam abwägen müs­
    sen, welche biotechnologischen Optionen es zu verwirk­
    lichen gilt und auf welche besser verzichtet wird. All­
    gemein anerkannte Kriterien, die zwischen notwendi­
    gem Wertewandel und verhängnisvollem Werteverfall
    zuverlässig unterscheiden, stehen uns jedoch nicht zur
    Verfügung.
    4.Das Dilemma, sich jeweils zwischen einer allge­
    meinen Ethik der Würde und einer konkreten Ethik des
    Helfens entscheiden zu müssen, lässt sich kaum auf­
    lösen. Denn aus der Perspektive eines schwer Erkrank­
    ten sind ethi sche Debatten purer Luxus.
    5.Absolute Gesundheit wird nur um den Preis ab ­
    soluter biologischer Kontrolle und Auslese zu haben
    sein. Den »Menschen nach Maß« brauchen wir aber
    keinesfalls – Medikamente und Therapien nach Maß
    indes schon.


Reinhard Lassek ist promovierter Biologe und Wissenschafts­
autor in Celle. Er schreibt unter anderem über Fragen der natur­
wissenschaftlichen und medizinischen Ethik.

wenn das verhindert, dass ihre Kinder bestimmte Krank­
heiten erben. Außerdem wies die Studie darauf hin, dass
viele derartige Meinungserfassungen ihre Fragen nicht
immer wissenschaftlich präzise formulierten. Mit anderen
Worten: Obwohl die Tagung der Wissenschaftsakademien
im Dezember 2015 mit dem Plädoyer zu Ende ging, die
öffentliche Diskussion über Keimbahnveränderung fortzu­
setzen, ist unklar, ob die Öffentlichkeit die Begriffe in
diesem Gespräch überhaupt versteht. Und während man
sich noch um einen geeigneten Wortschatz bemüht, läuft
der wissenschaftliche Fortschritt inzwischen davon.
Von den aktuellen Publikationen aus dem Fachbereich
gefällt Orwig eine besonders gut, die ein Team unter
Leitung von Qi Zhou von der Chinesischen Akademie der
Wissenschaften im März 2016 veröffentlichte. Ihr Experi­
ment liefert im Wesentlichen ein Rezept zum Produzieren
von Keimbahnzellen in vitro. Die Forscher stellten in
Kulturgefäßen Spermien produzierende Stammzellen her.
Spritzten sie diese danach in Eizellen, entstanden vermeh­
rungsfähige Mäuse.


Ländergrenzen und nationale Gesetze spielen heutzu­
tage bei solchen Entwicklungen keine Rolle mehr. Ist
der Damm erst gebrochen, werden Leute mit veränder­
ter Keimbahn in der Welt herumreisen und sich irgendwo
vielleicht fortpflanzen. Die Veränderungen fließen dann
auch in anderen Ländern in den Genpool ein – eine schöne
neue Welt durch die Hintertür.
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