Spektrum der Wissenschaft Spezial - Biologie Medizin Hirnforschung Nr3 2017

(Ann) #1

»dass wir Menschen darauf vorbereitet sind, derart große
Veränderungen zu bewältigen oder hinzunehmen«.
Bis 2050 wird Nigeria nach UNO­Schätzungen seine
Einwohnerzahl verdoppeln, die USA überholen und mit
rund 400 Millionen Menschen das bevölkerungsreichste
Land hinter China und Indien sein. Während Saheed
heranwächst, muss er erleben, wie Nigerias ohnedies
magere Ressourcen immer weniger ausreichen. »Stellen
Sie sich das vor«, betont John Bongaarts, Vizepräsident
des Population Council in New York: »Jedes Menschen­
werk im Land muss verdoppelt werden. Jede Schule, jede
Klinik, jede Brücke.«
2015 revidierte die United Nations Population Division
ihre Prognosen für das Bevölkerungswachstum in Afrika
nach oben (siehe »Afrikas bedrohliche Bevölkerungsex­
plosion« von Robert Engelman, Spektrum Juni 2016, S. 66).
Einerseits steckt dahinter sogar eine positive Nachricht:
Dank der Fortschritte im Gesundheitswesen gab es weni­
ger Kindersterblichkeit und Aidsopfer, und südlich der
Sahara war die Lebenserwartung gestiegen. Doch ande­
rerseits hatte die Fruchtbarkeit nicht so rasch abgenom­
men wie erhofft. Die totale Fertilitätsrate – die durch­
schnittliche Anzahl der Kinder, die eine Frau im Lauf ihres
Lebens zur Welt bringt – stagniert in Afrika bei 4,7, und in
Nigeria beträgt sie sogar 5,7. Theoretisch könnte das Land
von einem so genannten demografischen Übergang
profitieren, bei dem die Fertilität sinkt und die zahlreichen
arbeitsfähigen Erwachsenen die wenigen Alten und Kinder
versorgen.
Ein Land, das erfolgreich einen demografischen Über­
gang vollzieht, indem es sowohl Geburtenrate als auch
Sterblichkeit senkt und die Bildung fördert, kann eine
demografische Dividende einstreichen, die es auf eine
höhere Entwicklungsstufe katapultiert. Doch in Nigeria
und anderen Ländern südlich der Sahara ist die Fruchtbar­
keit kaum gesunken und stagniert auf hohem Niveau.
Die Demografen nennen dafür mehrere Gründe, vom
anhaltenden Einfluss der Stammeskultur bis zum längeren
Zeitfenster, in dem Frauen gebärfähig bleiben. Wie der
Demograf Akinrinola Bankole vom Guttmacher Institute in
New York erklärt, gilt eine große Kinderzahl noch immer
als Alterssicherung – wobei die Menschen allerdings kaum
an die Kosten der Kinderaufzucht denken.


Die Schmerzen des Wachstums:
Hunger und Krankheiten
Hartnäckig hohe Fertilitätsraten verschärfen die Probleme,
die Nigeria bereits hat: Armut, Hunger, ansteckende
Krankheiten und Folgen des Klimawandels. Nach Auskunft
des Population Reference Bureau in Washington leiden
südlich der Sahara fast 240 Millionen Menschen – jeder
Vierte – an Nahrungsmangel, und 30 Millionen Kinder sind
derzeit unterernährt. Während Saheed und seine Ge­
schwis ter heranwachsen, kommen in der Region hunderte
Millionen Menschen hinzu, die nach Nahrung verlangen.
Außerdem verteilt sich das Bevölkerungswachstum in
Ländern wie Nigeria nicht gleichmäßig. Die Geburtenrate
ist derzeit im Norden viel höher, wo Ressourcen besonders
rar sind. Daher strömen von dort immer mehr Menschen


nach Lagos, dem Wohnort von Saheeds Familie. Diese
Wanderung ist Teil eines globalen Trends: Urbanisierung
und Bevölkerungswachstum werden die Städte der Welt
bis 2050 um mehr als 2,5 Milliarden Menschen aufblähen.
Rund 90 Prozent dieses Wandels werden in Asien und
Afrika stattfinden. Verstädterung geht oft mit besserer
Bildung, sinkender Geburtenrate und stabilem Wirtschafts­
wachstum einher. Gut geplante Städte reduzieren die
Landnutzung und steigern die Energieeffizienz. Wie der
norwegische Politologe Henrik Urdal vom Osloer Institut
für Friedensforschung gezeigt hat, senkt die Urbanisierung
tendenziell sogar das Risiko von Konflikten.
Doch da Länder wie Nigeria bei einem viel zu niedrigen
Stand wirtschaftlicher Entwicklung verstädtern, wird sich
2050 ein großer Teil der Weltbevölkerung in Slums mit
völlig unzureichender Gesundheitsversorgung und Kanali­
sation zusammenballen. Damit steigt für Saheed das
Risiko, eine der ansteckenden Krankheiten einzufangen,
die in von Zuwanderern übervölkerten Gebieten grassie­
ren. Vermutlich hat die Urbanisierung wesentlich zur
raschen Ausbreitung von Aids in Afrika beigetragen. Um
2050 könnten die Slums von Lagos gefährliche Brutstätten
für Tuberkulose und Malaria sein.

Während Nigerias Wirtschaft wächst, nehmen Autover­
kehr und Stromverbrauch zu, und die Luftverschmutzung
wird zum zusätzlichen Gesundheitsrisiko. Das explosive
Wachstum asiatischer Megastädte gibt davon einen
Vorgeschmack. Wie Daten eines unter anderem von der
Weltgesundheitsorganisation WHO betriebenen Projekts
namens Global Burden of Disease, Injuries, and Risk
Factors Study besagen, verursachte die Luftverschmut­
zung 2010 allein in China 1,2 Millionen Tote und 25 Millio­
nen verlorene Lebensjahre.
Paradoxerweise könnte eine Senkung der Geburtenrate
für Nigeria einen höchst unerwünschten Nebeneffekt
haben. Dabei nimmt zunächst der Anteil junger Männer an
der Gesamtbevölkerung zu. Wenn die Wirtschaft nicht
genügend Arbeitsplätze anzubieten vermag, so Bongaarts,
»produziert das junge Arbeitslose, die unglücklich sind. Sie
lassen sich beliebig ausbeuten und neigen zu Straftaten.«
Nach Meinung mancher Politologen hat dieser Jugend­
überschuss (englisch: youth bulge) die Unruhen des so
genannten Arabischen Frühlings in Nordafrika und dem
Nahen Osten mitverursacht.
Um dem zu entgehen, müssen Länder wie Nigeria
gleichzeitig Bildung, Beschäftigung und Zugang zu Fami­
lienplanung fördern – eine Mammutaufgabe, die allerdings
nicht unlösbar ist. Vor 40 Jahren sah kaum jemand die

2050 wird sich ein großer Teil der


Weltbevölkerung in Slums mit


schlechter Gesundheitsversorgung


und Kanalisation ansammeln

Free download pdf