Spektrum der Wissenschaft Spezial - Biologie Medizin Hirnforschung Nr3 2017

(Ann) #1

rapide abnehmende Fruchtbarkeit in Bangladesch, Indo­
nesien und dem Iran voraus. Falls Saheed Arbeit findet
und heiratet, entschließt er sich vielleicht, weniger Kinder
zu haben als traditionell üblich, damit er es sich leisten
kann, sie zur Schule zu schicken. Auf diese Weise hat Ni­
geria die Chance, eine Belastung in einen Vorteil zu ver­
wandeln und eine demografische Dividende zu genießen.
Solche Veränderungen der Bevölkerung haben entschei­


dend zum wirtschaftlichen Aufstieg von Ländern wie
Brasilien, China und Südkorea beigetragen.
In Deutschland geht eine ganz andere Verschiebung vor
sich. Als Lena 1999 geboren wurde, war Deutschland das
Zugpferd für Europas Wirtschaftswachstum, und Arbeits­
kräfte gab es mehr als genug. Doch den Prognosen zufol­
ge wird die Einwohnerzahl bis 2050 von 82 Millionen auf
weniger als 75 Millionen fallen. Fast 40 Prozent der Ge­
samtbevölkerung werden dann mehr als 60 Jahre alt sein,
während die Menschen im Alter zwischen 15 und 59, aus
denen sich im Wesentlichen der Anteil der Erwerbstätigen
rekrutiert, nur 48 Prozent ausmachen werden – 19 Prozent
weniger als heute. Manche Regionen bieten schon jetzt
einen Vorgeschmack dessen, was dem ganzen Land blüht.
2015 verkündete der 70­jährige Bürgermeister der nieder­
sächsischen Ortschaft Ottenstein, er werde an Paare mit
kleinen Kindern Land verschenken, damit die Dorfschule
nicht schließen müsse.


Demografischer Wandel in einem alten Land
So wie Deutschland wird es mit der Zeit ganz Europa,
Asien und Lateinamerika ergehen. Nach UNO­Prognosen
werden elf Länder, darunter etwa Japan und die Ukraine,
bis 2050 mindestens 15 Prozent ihrer Bevölkerung einbü­
ßen. Durch den Mangel an jungen Arbeitskräften und
Steuerzahlern droht eine dauerhafte Wirtschaftsflaute.
Kann der Zustrom von Migranten das Problem lösen?
Laut UNO wird Deutschland bis 2050 zu den Ländern
gehören, welche die meisten Flüchtlinge aufnehmen.
Wenn die Bevölkerung im Afrika südlich der Sahara weiter
zunimmt und sofern junge Männer wie Saheed in der
Heimat keine Arbeit finden, dürften die Flüchtlingszahlen
künftig noch steigen – und Deutschlands Zukunft würde
von Nigerias Entwicklung abhängen.
Manche argumentieren, der Zustrom junger Men­
schen wirke der Überalterung entgegen. Dagegen wen­
det Gold stone ein: »Um die schrumpfenden Jugend­
kohorten in demografisch stagnierenden Staaten wie
Deutschland und den Niederlanden zu kompensieren,
wären einige zehn Millionen Migranten nötig« – und


noch viele mehr, um den Bevölkerungsdruck in Afrika zu
mildern.
Selbst bei fortgesetzter Einwanderung wird also Leip­
zigs Bevölkerung abnehmen. Die Stadt wird versuchen,
ihre Versorgungssysteme der sinkenden Nutzung anzupas­
sen – vielleicht durch steigende Gebühren, mit denen
Berufstätige wie Lena belastet werden. Die schrumpfende
Stadt ist ein teures Pflaster.
Deutschland wird zudem bis 2050 neue medizinische
Probleme bekommen, denn bessere Gesundheit und
Langlebigkeit verschieben das Krankheitsprofil. Zum
Beispiel sind Lenas Eltern über 80 Jahre alt. Sie zählen
damit zu den Hochbetagten, die 2050 an die 15 Prozent
der Bevölkerung ausmachen dürften. Wahrscheinlich
werden sie nicht mehr wie frühere Generationen vorwie­
gend an Krebs oder Herzschlag sterben. Dafür steigt das
Risiko für Demenz. »Früher starben die Menschen, bevor
sie Alzheimer bekamen – jetzt nicht mehr«, sagt Axel
Börsch­Supan, Leiter des Mannheimer Forschungsinstituts
Ökonomie und Demographischer Wandel sowie Koordi­
nator des Survey of Health, Ageing and Retirement in Eu ­
rope, einer Langzeitstudie, die 45 000 über 50 Jahre alte
Europäer erfasst.
Die gute Nachricht: In Westeuropa leben die Menschen
nicht bloß länger; sie bleiben auch viel länger gesund und
arbeitsfähig. In den letzten zwei Jahrzehnten stieg in
Deutschland die Lebenserwartung bei Geburt um fast fünf
Jahre – auf knapp über 80. In ganz Europa verbessern sich
die Gesundheitsdaten, betont Börsch­Supan: »Die Langle­
bigkeit nimmt linear zu, ohne Anzeichen einer Abflachung
der Kurve.« In den USA hingegen, so Börsch­Supan, drohe
man über der Diskussion zur langsameren Alterungsrate
einen enttäuschenden Trend der Lebenserwartung zu
übersehen, die sich bei einigen amerikanischen Bevölke­
rungsgruppen sogar verschlechtert. Muss Europa neu

In Deutschland verschiebt sich das Verhältnis zwischen Jung
und Alt. Im Jahr 2050 werden fast 40 Prozent der Bevölkerung
älter als 60 Jahre sein, gut 14 Prozent sogar älter als 80.

So wie dem allmählich alternden


Deutschland wird es mit


der Zeit ganz Europa, Asien und


Latein amerika ergehen


ISTOCK / ALEX RATHS
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