Spektrum der Wissenschaft Spezial - Biologie Medizin Hirnforschung Nr3 2017

(Ann) #1
definieren, was Altern heißt? Der Demograf Sergei Scher­
bov vom Internationalen Institut für Angewandte System­
analyse in Laxenburg (Österreich) schlägt vor, die Einwoh­
ner eines Landes nur in den letzten 15 Jahren ihres Lebens
als »alt« zu bezeichnen, gemessen an der Lebenserwar­
tung bei Geburt. Dieses Maß spiegelt Fähigkeit und Ge­
sundheit besser wider als die UNO­Definition, der zufolge
das Alter mit 60 beginnt, meint Scherbov: »In den 1950er
Jahren war der älteste Mensch auf dem Gipfel des Mount
Everest 39 Jahre alt. 2013 hat ein 80­jähriger Japaner
dasselbe geschafft.«
Tatsächlich überarbeiten viele Länder Europas ihr
Rentensystem. In Deutschland wird das Pensionsalter, das
derzeit 65 plus sechs Monate beträgt, sukzessive auf 67
anno 2029 steigen. Doch um Lenas mehr als 80 Jahre alte
Eltern nachhaltig zu versorgen, muss das Rentenalter
letztlich an die Lebenserwartung geknüpft werden, wie in
Norwegen und Schweden bereits geschehen. Diese An­
passung ist unpopulär. »In Europa gehen die Menschen
gern früh in Rente«, sagt Börsch­Supan, »doch das ist auf
Dauer nicht tragbar.«

Die schwere Last der Demografie
auf viele Schultern verteilen
Die Schicksale von Saheed und Lena hängen in hohem
Maß davon ab, was heute geschieht. Durch geschickte Zu­
kunftsplanung könnten sowohl Nigeria als auch Deutsch­
land den bevorstehenden demografischen Wandel bewäl­
tigen. Goldstone vergleicht die Demografie mit der
Schwerkraft: Man muss sie berücksichtigen und sich
entsprechend verhalten. »Wenn man die Gravitation
richtig nutzt, kann man Fluggeräte bauen«, sagt er. »Eben­
so kann es politische Stabilität und prosperierende Wirt­

schaft geben, während die Bevölkerung wächst oder
schrumpft. Aber man muss klug investieren, gut wirt­
schaften, produktive Arbeitskräfte ausbilden und den
Unterstützungsbedarf unterschiedlicher Altersgruppen
einplanen, der sich mit der Zeit verändert.«
Nigeria und Deutschland bilden die Enden eines globa­
len Kontinuums. Zwischen diesen Extremen liegen viele
andere Nationen, zum Beispiel die USA, deren Bevölke­
rung zugleich altern und wachsen wird.
Um die globale Stabilität aufrechtzuerhalten, müssen
bevölkerungsreiche Schwellenländer wie Brasilien, China,
Indien und Mexiko in die demografische Planung einbezo­
gen werden. Institutionen wie G7 – die Gruppe der bedeu­
tendsten Industrienationen – und Nato müssen sich an die
veränderte Weltlage anpassen und dafür sorgen, dass
nicht nur die Industrieländer Geld für Gesundheitsversor­
gung, Rohstoffe und Infrastruktur bekommen. Sonst
explodiert in der reichen Welt die neue Bevölkerungs­
bombe, während die arme Welt vom Jugendüberschuss
zerrissen wird.

QUELLEN
Bongaarts, J., Casterline, J.: Fertility Transition: Is Sub­Saharan
Africa Different? In: Population and Development Review 38,
Supplement, S. 153–168, 2013
Goldstone, J. A.: The New Population Bomb. In: Foreign Affairs 89,
Januar/Februar 2010
http://www.foreignaffairs.com/articles/2010­ 01 ­01/new­population­bomb
Sanderson, W. C., Scherbov, S.: Remeasuring Ageing. In: Science
329, S. 1287–1288, 2010
United Nations Population Division: World Population Prospects:
The 2015 Revision: Key Findings and Advance Tables, 2015 https://
esa.un.org/unpd/wpp/Publication/Files/Key_Findings_WPP_2015.pdf

Der Jugendüberschuss in den
Entwicklungsländern wird
von manchen Soziologen für
den Ausbruch spontaner
Revolten verantwortlich
gemacht. Andererseits ist eine
große Anzahl arbeitsfähiger
Jugendlicher ein positiver
Wirtschaftsfaktor – sie müs-
sen jedoch Arbeit finden.

FOUROAKS / GETTY IMAGES / ISTOCK

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