Spektrum der Wissenschaft Spezial - Biologie Medizin Hirnforschung Nr3 2017

(Ann) #1
Zentralafrikanischen Republik, wenn man die niedrigeren
Lebenshaltungskosten in den ärmeren Ländern berücksich-
tigt. Die enorme internationale Ungleichheit, eine Folge
ungleichzeitiger Fortschritte, gefährdet die künftige Ent-
wicklung der Menschheit (siehe »Reiche Welt – arme
Welt«, S. 34).

Die Wurzeln des Fortschritts
Wahrscheinlich werden sich die Historiker nie ganz über die
Ursachen der industriellen Revolution einigen, aber gewiss
war die Aufklärung ein entscheidender Vorläufer – vor allem
mit der Idee des nützlichen Wissens. Solches Wissen
beruht auf der Befragung der Natur und der Entwicklung
der Grundlagenforschung; es liefert Techniken, Maschinen
und Kenntnisse, die das Leben verbessern und das Streben
nach Glück unterstützen. Neues Wissen fällt nicht vom
Himmel, sondern ist geprägt von der sozialen Umgebung
und aktuellen Bedürfnissen. Auch Marktmechanismen
spielen eine Rolle. Wenn eine Ressource teuer ist, sind die
Menschen bestrebt, Verfahren zu erfinden, die weniger
davon verbrauchen. In England schufen die vor der industri-
ellen Revolution relativ hohen Löhne einen Anreiz, mensch-
liche Arbeitskraft durch Maschinen zu ersetzen.
Politische und geistige Freiheit förderte den wirtschaftli-
chen Aufschwung. Erfindungen bewirken oft »schöpfe-
rische Zerstörung«, wie das der österreichische National-
ökonom Joseph Schumpeter (1883–1950) nannte. Neue
Techniken zerstören nicht nur traditionelle Verfahren,
sondern auch die Lebensgrundlage der davon abhängigen
Menschen. Darum stößt technischer Wandel oft auf
erbitterten und – bei entsprechender politischer Unterstüt-
zung – erfolgreichen Widerstand. Dieser Streit lässt sich
nur durch politische Vereinbarungen regeln.
Warum vollzog sich der dauerhafte Aufschwung da-
mals in Europa und nicht in China? Ein Grund: Die poli-
tische Aufspaltung Europas erlaubte den Vertretern neuer
und unerwünschter Ideen oder Religionen, dem örtlich
herrschenden Regime zu entfliehen und sich anderswo
anzusiedeln. Heutzutage, in der Ära der Globalisierung,
lassen sich Güter, Dienstleistungen und in geringerem
Maß Menschen leicht und billig rund um die Erde bewe-
gen. Nicht zuletzt dadurch ist es Indien und China gelun-
gen, der schlimmsten Not zu entkommen. Doch ist auf das
seit 1750 herrschende Wachstum weiter unbegrenzt
Verlass? Oder zeigen die schwarzen Wolken am Horizont
an, dass die Quelle des Wohlstands versiegt? Nur weil die
vergangenen 250 Jahre eine Ära des Fortschritts waren –
freilich mit einigen schrecklichen Unterbrechungen –,
dürfen wir nicht glauben, dass das ewig so weitergeht.

Vielfältige Folgen sozialer Unterschiede
Ich betrachte Ungleichheit nicht von vornherein als schäd-
lich. Mein Wohlbefinden ändert sich nicht bloß deshalb,
weil sonst jemand gewinnt oder verliert. Ungleichheit ist
manchmal nur ein anderes Wort für Anreize. Wer etwas
erfindet, das allen nützt, wird oft mit großem Reichtum be-
lohnt, doch das allein gefährdet noch nicht den gesell-
schaftlichen Zusammenhalt. Erst die indirekten Auswir-
kungen der Ungleichheit bedrohen unsere Zukunft.

Wachsende Kluft


In den Industriestaaten nimmt die ungleiche Ver-
teilung der Einkommen seit Jahrzehnten deut-
lich zu. Der Anteil am Bruttonationaleinkommen,
den das reichste Prozent der Bevölkerung ein-
streicht, ist in den USA am stärksten gewachsen.
Gewinne durch den Verkauf von Privatvermögen
sind in den Zahlen nicht berücksichtigt.


20

18

16

14

12

10

8

6

4

USA

Singapur
Deutschland
Großbritannien

Kanada
Südkorea
Schweiz
Irland
Japan
Italien
Frankreich
Australien
Spanien
Norwegen
Neuseeland
Schweden
Mauritius
Dänemark

Südafrika

1980–1982 2008–2015

Anteil des reichsten Hundertstels
der Bevölkerung am Nationaleinkommen

20

15

10

5

Anteil des reichsten Hundertstels
der US-Bürger am Nationaleinkommen

19201940196019802000

Weltwirtschaftskrise
Zweiter Weltkrieg

Steuerreform
1986

2015

Prozent

Prozent

TIFFANY FARRANT-GONZALEZ, NACH: FACUNDO ALVAREDO, ANTHONY B. ATKINSON, THOMAS PIKETTY, EMMANUEL SAEZ, AND GABRIEL ZUCMAN: THE WORLD WEALTH AND INCOME DATABASE (WID.WORLD), JULI 2016 / SCIENTIFIC AMERICAN SEPTEMBER 2016
Free download pdf