Spektrum der Wissenschaft Spezial - Biologie Medizin Hirnforschung Nr3 2017

(Ann) #1

In den Industrieländern pendelte die Wachstumsrate
des jährlichen Pro-Kopf-Einkommens lange um etwa
zwei Prozent, doch nun sinkt sie. Hinzu kam 2008 der
Absturz durch die Finanzkrise, von der sich die USA und
Europa bestenfalls teilweise erholt haben. Ist diese mas-
sive Rezession nur eine vorübergehende Episode der
Marktwirtschaft – oder ein Vorbote noch schlimmerer
Krisen?
Das Wachstum des Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukts
bleibt ein zwar unvollkommener, aber dennoch verlässlicher
Indikator für steigenden Wohlstand. Bei drei Prozent pro
Jahr verdoppeln sich die Einkommen in 25 Jahren, das
heißt im Lauf einer einzigen Generation; bei jährlich zwei
Prozent Wachs tum dauert es 35 Jahre, bei einem Prozent
70 Jahre. In den USA und Europa haben viele Familien
jedoch nicht nur die Chance verloren, es besser zu haben
als ihre Eltern, sondern müssen sogar gegen sozialen
Abstieg ankämpfen. Mit versiegendem Wachstum nimmt
politischer Streit zu. Solange der gesamte Kuchen wächst,
kann jeder ein größeres Stück bekommen; ist das nicht
mehr der Fall, lässt sich eine Portion nur auf Kosten anderer
vergrößern. Das Gleiche gilt für öffentliche Güter wie Ge-
sundheitsversorgung, Sozialversicherungssysteme, Bildung
und Infrastruktur. Nur bei prosperierender Wirtschaft kön-
nen diese Güter erhalten und erweitert werden, ohne dass
jemand Einbußen erleidet; andernfalls sind soziale Opfer
fällig.
Bei stagnierendem Wachstum entstehen Gruppen, die
ihre Mitglieder auf Kosten der Gesamtbevölkerung berei-
chern, indem sie Gesetze und Vorschriften erzwingen, die
nur deren Einkommen erhöhen oder sie anderweitig pro-
tegieren. Dadurch verschlechtert sich das Innovationskli-
ma, und das Wachstum stagniert erst recht. Ökonomen
nennen dieses Streben nach staatlich garantierten Einkom-
mensvorteilen Rent-Seeking; oft handelt es sich dabei um
Lobbying oder simple Korruption. Wie der amerikanische
Wirtschaftswissenschaftler Mancur Olson (1932–1998)
meinte, führen diese Aktivitäten den Niedergang reicher
Nationen herbei. Heutzutage lassen sich dafür leicht Bei-
spiele finden. 2015 gab eine wichtige staatliche For-
schungseinrichtung der USA, die Gesundheitsbehörde NIH
(National Institutes of Health), eine erstaunliche Erklärung
heraus: Sie würde keine Forschung finanzieren, deren
Hauptziel darin bestünde, Kosten und Effizienz des Ge-
sundheitssystems zu bewerten. Die NIH stand dabei unter
massivem Druck des von der Gesundheitsindustrie großzü-
gig geschmierten Kongresses, der die von Präsident Oba-
ma durchgesetzte Gesundheitsreform zutiefst ablehnte.
Wenn das vorhandene Wachstum nicht halbwegs
gerecht verteilt wird, entstehen soziale Spannungen. Die
Benachteiligten halten vielleicht still, solange sie wenigs-
tens etwas bekommen, doch wenn ihr Einkommen sta-
gniert oder schrumpft, werden sie unruhig. Ungleichheit
wird zum politischen Problem. Im Idealfall führt Unzufrie-
denheit zu gesellschaftlichem Wandel. Doch wenn das
politische System nur die Bedürfnisse der Reichen be-
rücksichtigt, gerät die politische Stabilität in unmittelbare
Gefahr. Falls die großen Parteien den Ausgegrenzten
nichts anzubieten haben, wenden sich die Benachteiligten


Strömungen zu, welche die repräsentative Demokratie
bedrohen.
Viele Menschen erleben den Verlust des Wohlbefindens
sehr konkret. In der Mitte der Gesellschaft stagnieren die
Einkommen. In den USA herrscht eine Gesundheitskrise
unter den nicht hispanoamerikanischen Weißen mittleren
Alters, die sich häufig durch Drogen, Selbstmord und
Alkohol zu Grunde richten. In den letzten Jahren hat die
Lebenserwartung nur bei wohlhabenden Amerikanern
zugenommen.

Ineffiziente, aufgeblähte Systeme, in denen
nur einige wenige stark profitieren
Warum stagniert das Wachstum? Über die Gründe besteht
zwar keine Einigkeit, aber unstrittig ist, dass alle direkten
Ursachen mit zunehmender Ungleichheit zusammenhän-
gen. In den USA verschlingt das Gesundheitswesen Un-
summen – fast ein Fünftel des Bruttoinlandprodukts,
verglichen mit rund elf Prozent in Deutschland – und ist
dennoch wenig effektiv, wie die Entwicklung der Lebens-
erwartung zeigt. Das dafür erforderliche Geld bringen die
Bürger letztlich mit ihren Löhnen und Einkommen auf.
Dieses sündteure System wird heftig von denjenigen
verteidigt, die Einkommen und Macht direkt oder indirekt
aus den Gesundheitsausgaben beziehen.
Auch der Finanzsektor trägt an sich zu unserem Wohl-
ergehen bei, aber er hat sich ungeheuer aufgebläht. Die
enormen privaten Vergütungen, die er hervorbringt, über-
steigen seinen sozialen Nutzen. Viele unserer besten Köpfe
arbeiten in diesem Sektor, statt reale Dinge zu produzieren
oder neue Heilverfahren zu entwickeln. Vor allem ist ein
allzu großer Finanzsektor instabil und verursacht verhee-
rende Wirtschaftskrisen.
Die schiere Größe des Gesundheits- und des Finanzsek-
tors erschwert deren politische Kontrolle. Beide treiben die
Ungleichheit voran, indem sie einer kleinen Minderheit
riesige Einkommen verschaffen, während sie reales Wachs-
tum und Innovationsbereitschaft lähmen. Demzufolge lässt

AUF EINEN BLICK
RISKANTE UNGLEICHHEIT

1


In den vergangenen Jahrzehnten sind die Ein-
kommensunterschiede in vielen Industrieländern
stetig größer geworden.

2


Solche Unterschiede sind schädlich, wenn es kleinen,
aber mächtigen Gruppen gelingt, die politischen
und ökonomischen Regeln zum eigenen Vorteil zu
verändern: Dann stagniert die Wirtschaft.

3


Auf Dauer lässt sich Prosperität nur erreichen, wenn
die Ungleichheit gemildert wird. Andernfalls drohen
wirtschaftliche Dauerkrisen und soziale Konflikte,
welche die Demokratie gefährden.
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