Spektrum der Wissenschaft Spezial - Biologie Medizin Hirnforschung Nr3 2017

(Ann) #1


Als Christopher Murray zehn Jahre alt war, packte
seine Familie in Golden Valley (Minnesota) ein paar
Koffer und einen tragbaren Generator zusammen, um
per Flugzeug, Auto und Schiff über Spanien und Marokko
quer durch die Sahara zu dem Dorf Diffa in Niger zu reisen.
Im folgenden Jahr errichtete und betrieb die fünfköpfige
Familie – der Vater Arzt, die Mutter Mikrobiologin – das
örtliche Krankenhaus. Während der junge Murray die
Spitalsapotheke betreute und Besorgungen erledigte, fiel
ihm zunehmend auf, dass die Nigrer an vielen seltsamen
Krankheiten litten, die daheim in Minnesota niemals
auftraten. Warum waren die Menschen an manchen Orten
so viel kränker als anderswo?
Mit der Zeit wurde der Junge unzufrieden. Er und seine
Familie hatten hart gearbeitet, um den Einwohnern von
Diffa zu helfen. Aber am Ende des Jahres hatte er den
Eindruck, kaum etwas erreicht zu haben, und fragte sich:
Wie können dauerhafte Verbesserungen gelingen?
Mit dieser Frage im Hinterkopf drängte Murray in den
folgenden vier Jahrzehnten Ärzte und Gesundheitspoliti­
ker, sich mehr um die großen Zusammenhänge zu küm­
mern – um die langfristigen Trends, die unnötigerweise so
viele Menschen schon in jungen Jahren das Leben kosten.
Er widmete seine ganze Karriere dem Aufbau eines Sys­
tems, das der globalen Gesundheitspolitik endlich etwas
dringend Nötiges liefert, das nur allzu oft fehlt: verlässliche
Daten.
Wie Murray erkannte, haben wir nur ein unklares Bild
von unseren Leiden, weil Politiker peinliche Zahlen zurück­
halten oder frisieren. Auch lassen sich zwischen unter­
schiedlichen Staaten nur schwer statistische Vergleiche
ziehen. Also versuchte Murray ein neuartiges Instrument
zu schaffen, das Informationslücken schließt, den wahren
Zustand der Weltgesundheit enthüllt und zeigt, wie sich
künftigen Generationen helfen lässt.
Im 19. und 20. Jahrhundert revolutionierte die weite
Verbreitung des Mikroskops das Gesundheitswesen: Die
Entdeckung der winzigen Krankheitserreger führte zu
besserer Hygiene sowie zur Entwicklung von Antibiotika
und Impfstoffen. Murrays neues Instrument war gewis­
sermaßen das Gegenteil. Sein »Makroskop« sollte nütz­
liche Krankheitsdetails in großem Maßstab aufklären –
über Ländergrenzen und Kontinente hinweg die gesamte
Menschheit erfassend.

Ein Makroskop für ein Gesamtbild der Weltgesundheit
Einen ersten Versuch zur Entwicklung eines solchen
Instruments machte Murray 1993, als er für die Weltbank
mit einigen Koautoren einen bahnbrechenden Bericht zur
globalen Gesundheit zusammenstellte. 2007 gründete er

AUF EINEN BLICK
SCHNAPPSCHÜSSE
DER WELTGESUNDHEIT

1


Wie sehr die Menschen in welchen Regionen an
welchen Krankheiten leiden, ist erstaunlich unklar. Oft
fehlen entsprechende Daten ganz, oder sie wurden
nach national unterschiedlichen Kriterien erhoben.

2


Seit Jahrzehnten sucht der Arzt und Ökonom Christo­
pher Murray nach weltweit gültigen Messmethoden
für Krankheit und Behinderung. Mit Hunderten von
Experten entwickelt er eine umfangreiche Datenbank.

3


Erste Ergebnisse besagen, dass die globale Versor­
gung mit sauberem Trinkwasser unerwartete Fort­
schritte gemacht hat. Hingegen klaffen große Lücken
in den Daten über Typhus, Masern und Hepatitis.

W. Wayt Gibbs lebt als Wissenschaftsjournalist
in Seattle (US­Bundesstaat Washington) und
schreibt regelmäßig für »Scientific American«.
Außerdem publiziert er für eine teilweise von
der Bill & Melinda Gates Foundation finanzierte
Investmentgesellschaft.

 spektrum.de/artikel/1427444

dann das Institute for Health Metrics and Evaluation
(IHME) an der University of Washington in Seattle und
begann ein weltumspannendes Netzwerk von Mitarbeitern
zu installieren – für ein viel feineres und umfassenderes
Makroskop.
Wie die meisten Neuerungen des 21. Jahrhunderts
besteht das Makroskop aus Software und riesigen Daten­
mengen. An einem Ende fließen Gigabytes von Gesund­
heitsstatistiken ein, gesammelt in jedem Winkel des
Planeten und kontrolliert von einem multinationalen Team
aus mehr als 1000 Forschern. Am anderen Ende kommen
interaktive Grafiken und Tabellen heraus, die höchst
detailliert und genau alle möglichen Krankheits­, Verlet­
zungs­ und Todesursachen in aller Welt verzeichnen, vom
Herzinfarkt bis zum Eselsbiss. Dazwischen arbeitet ein
Supercomputer mit ausgeklügelten Methoden der mathe­
matischen Statistik, um Fehler zu beheben, unzuverlässige
Daten zu beseitigen und intelligente Schätzungen für die
zahlreichen Weltregionen anzustellen, aus denen es keine
belastbaren Zahlen gibt.
Nach zehn Jahren und vielen Millionen Dollar Entwick­
lungskosten liefert das System nun Momentaufnahmen
des Gesundheitszustands von Homo sapiens, die fast einer
jährlichen Routineuntersuchung gleichen. Das IHME
veröffentlichte erstmals 2012 eine umfassende Statistik,
weitere 2014 und 2016, und im Zweijahresabstand sollen
Updates folgen. Mit jedem Mal werden die Schnapp­
schüsse – die nicht nur die Gegenwart, sondern auch die
Vergangenheit erfassen – immer exakter, detailreicher
und vollständiger.
Diese Berichte summieren sich zu einer Langzeitstudie
namens Global Burden of Diseases, Injuries, and Risk
Factors Study (GBD), die überraschende Trends auf so
unterschiedlichen Gebieten wie Luftverschmutzung,
Nierenleiden und Brustkrebs offenbart – und zwar in
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