Spektrum der Wissenschaft Spezial - Biologie Medizin Hirnforschung Nr3 2017

(Ann) #1
Das Rätsel der Nierenerkrankungen
Chronische Nierenerkrankungen sind auf dem Vor­
marsch. Nach Schätzungen des IHME ist die einschlä­
gige Sterberate in den USA seit 1990 um 72 Prozent
gestiegen; 2013 lag sie um 50 Prozent höher als bei
Brustkrebs. Anderswo ist die Lage sogar noch schlim­
mer. In Mexiko war 1990 nur einer von 40 Todesfällen
auf Nierenprobleme zurückzuführen, 2013 schon einer
von elf.
Der GBD­Studie zufolge erklärt die wachsende Häu­
figkeit von Übergewicht und Diabetes ein Viertel des
Anstiegs, Bluthochdruck ein weiteres Viertel. Doch zu
einem großen Teil bleibt die Häufung von Nierenkrank­
heiten rätselhaft.

Todesfälle durch chronische Nierenleiden

pro 100000 Menschen

199019952000200520102013

50

40

30

20

10

0

Mexiko

Industrieländer

USA

Entwicklungs-
länder

zurückbleibt. »Auf Grund unserer Risikofaktorenanalyse
setzten sie andere Prioritäten und stellten die Ernährung in
den Vordergrund«, berichtet Murray. Mindestens 33 Län­
der, darunter China, Brasilien, Deutschland und Russland,
haben nun begonnen, ihre Gesundheitsstatistiken zu
verbessern; die so gewonnenen Daten werden in das
globale Makroskop einfließen.
Einige Resultate des GBD­Systems werden kontrovers
diskutiert, weil sie vermeintlich unumstößlichen Zahlen
widersprechen. Beispielsweise besagte eine 2014 publi­
zierte GBD­Analyse zur Verbreitung von Aids, dass die
UNAIDS­Schätzungen für den Zeitraum von 2005 bis 2012
um 17 bis 19 Prozent zu hoch lagen – was immerhin einen
Unterschied von 6,6 Millionen Erkrankten und 635 000

QUELLE
Murray, C. J. L. et al.: Global, Regional, and National Disability­
Adjusted Life Years (DALYs) for 306 Diseases and Injuries and
Healthy Life Expectancies (HALE) for 188 Countries, 1990–2013:
Quantifying the Epidemiological Transition. In: Lancet 386,
S. 2145–2191, 2015

LITERATURTIPP
Smith, J. N.: Epic Measures: One Doctor, Seven Billion Patients.
Harper Wave, New York 2015
Erzählt von Christopher Murrays Erforschung der Weltgesundheit

WEBLINK
Interaktive Darstellung der Studie »Global Burden of Disease«:
http://www.healthdata.org/results/data­visualizations

NIGEL HAWTIN, NACH: INSTITUTE FOR HEALTH METRICS AND EVALUATION, GLOBAL HEALTH DATA EXCHANGE (GHDX),


WWW


.HEALTHDATA.ORG / SCIENTIFIC AMERICAN AUGUST 2016


Farbbereich zeigt
Unsicherheit
der Schätzung an.

Toten bedeutet. Die niedrigen Zahlen legen nahe, dass
bestimmte Präventions­ und Behandlungsstrategien –
etwa Sexualaufklärung und Kondomnutzung – besser
anschlagen als erwartet und deshalb stärker genutzt
werden sollten.
Einer ebenfalls umstrittenen IHME­Schätzung zufolge
waren 2013 die Malariatodesopfer zu einem Drittel Er­
wachsene. Nach herrschender Ansicht trifft diese Krank­
heit zwar auch viele Ältere, tötet aber fast ausschließlich
Kinder. »90 Prozent der Experten glauben, dass Murray
falschliegt«, räumt Gates ein. In den nächsten Jahren
sollen bessere Erhebungen den Streit schlichten.
Die GBD­Resultate enthalten auch sehr gute Nachrich­
ten. Zum Beispiel sind die – vor allem durch infiziertes
Wasser verursachten – Durchfallerkrankungen zwischen
1990 und 2013 weltweit um 70 Prozent zurückgegangen.
Murrays Team schlägt darum vor, in manchen Regionen
die Entwicklungshilfe statt auf Brunnenprojekte besser auf
Maßnahmen gegen Verkehrsunfälle zu konzentrieren.
Während Kinder früher an schmutzigem Wasser starben,
sind sie nun oft eher als Fußgänger, Radler und halbwüch­
sige Autofahrer gefährdet.
Zugleich offenbart das Makroskop blinde Flecken in der
globalen Statistik. »Es ist unerträglich, wie wenig wir über
Ausbrüche von Typhus und Cholera wissen«, klagt Gates,
der neuerdings zu jedem Treffen mit Verantwortlichen und
Entwicklungshelfern GBD­Tabellen mitbringt. Wegen der
lückenhaften Datenlage kann das IHME nur ganz grob
schätzen, dass Typhus für den Verlust von 6 bis 18,3 Mil­
lionen Jahren gesunden Lebens verantwortlich ist. Ähnlich
ungewiss ist die Auswirkung von Keuchhusten, Masern
sowie Hepatitis A und C.
Murray ist davon überzeugt, dass das Makroskop mit der
Zeit immer schärfere Bilder liefern wird. Die Gesundheits­
behörden können sich dann stärker auf die jährlichen
Trends konzentrieren statt auf die absoluten Krankenzahlen.
Murray zieht eine Parallele zur Volkswirtschaftslehre, wo
man sich weniger für das mittlere Einkommen, die Gesamt­
zahl der Arbeitsplätze oder den Geldwert des Bruttoinlands­
produkts an sich interessiert, sondern vor allem für das
Veränderungstempo dieser Größen. Statt kleinlaut zu fragen
»Können wir mehr erreichen?«, wird es künftig heißen:
»Wie können wir schneller vorankommen?«
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