Spektrum der Wissenschaft Spezial - Biologie Medizin Hirnforschung Nr3 2017

(Ann) #1

60 Spektrum SPEZIAL Biologie Medizin Hirnforschung 3.17


QUELLEN
Biello, D.: The Unnatural World. Scribner, New York 2016
Renn, J., Scherer, B.: Das Anthropozän. Matthes & Seitz Berlin,
Berlin 2015
Schwägerl, C.: Menschenzeit. Goldmann, München 2012
Vince, G.: Adventures in the Anthropocene. Milkweed Editions,
Minneapolis 2014

Mensch noch vor wenigen Jahrtausenden eine Tierart
unter vielen, so hat er sich inzwischen zum dominanten
Raubtier entwickelt, zu Wasser wie zu Land. Wir bean­
spruchen nicht nur rund ein Viertel der gesamten Produk­
tion der irdischen Biosphäre für uns. Auch stellt unsere Art
ein Drittel der Gesamtkörpermasse aller Landwirbeltiere.
Die übrigen zwei Drittel sind im Wesentlichen Nutztiere,
die uns als Nahrungslieferanten dienen. Die echten Wild­
tiere tragen kaum mehr als fünf Prozent bei und sind
damit inzwischen eine Randerscheinung. Zudem haben
wir die verbliebenen Wildtierbestände global durchmischt
und weltweit vereinheitlicht. Der Planet erlebt einen men­
schengemachten Artenverlust, der bald Ausmaße ver­
gleichbar jenem an der Kreide­Paläogen­Grenze erreichen
könnte, als die Dinosaurier verschwanden.


Hinterließen frühere Lebewesen ihre Spuren etwa in
Form von Dinosaurierfußabdrücken oder Grabgängen
mariner Würmer, so schafft der Mensch heutzutage ein
ganzes Arsenal solcher Erinnerungsstücke. Bergwerke
und Bohrlöcher dringen etliche Kilometer in den Unter­
grund vor und prägen den Planeten dauerhaft, ebenso
wie Fundamente, Leitungen und U­Bahn­Systeme im
Untergrund.
Alles in allem hinterlässt die Menschheit also enorm
viele geologische Signaturen auf dem Planeten. Um zu
beantworten, inwieweit sie überdauern, lohnt ein Blick auf
die Gesteinsschichten der zurückliegenden vier Milliarden
Jahre. Wo sich die Erdkruste hebt, etwa in Gebirgsbil­
dungsregionen, erodiert die Oberfläche und wird als
Sediment ins Meer geschwemmt. Wo sich die Kruste
senkt – etwa unter großen Flussdeltas –, sammeln sich
geschichtete Sedimente an und schließen allerlei Ablage­
rungen ein, so dass selbst flüchtige Strukturen wie die von
Blättern, Zweigen und Fußabdrücken vielfach erhalten
bleiben. San Francisco, von tektonischen Kräften gehoben,
wird im Lauf der Zeit verwittern und vermutlich keine
Spuren zurücklassen. New Orleans, Schanghai und
Amsterdam dagegen sinken ab, was viele ihrer großen
und komplexen Baustrukturen konservieren dürfte – neben
Aluminium­, Plastik­ und Keramikerzeugnissen sowie
Skeletten mit metallischen Zahnfüllungen und künstlichen
Hüften. Kehrt sich dieser Prozess in vielen Jahrmillionen
um, so dass die absinkenden Schichten durch tektonische
Kräfte wieder aufsteigen, dürften an künftigen Felswänden
Gesteinsschichten sichtbar werden, die sich im Anthropo­
zän abgelagert haben – mitsamt ihren Einschlüssen.
Tatsächlich könnte der anthropogene Einfluss den
Planeten ähnlich verändern wie der Meteoriteneinschlag
am Ende der Kreidezeit. Zwar war dessen direkte Stoßwel­
le nach wenigen Stunden vorüber, doch der Aufprall hatte


Konsequenzen für Jahrmillionen und im Grunde bis heute:
Ohne ihn gäbe es uns wohl nicht. Analog dazu könnte
auch unser Dasein nachwirken, wenn wir schon längst
verschwunden sind. Viele Entwicklungen, die wir ansto­
ßen, verstärken sich über Rückkopplungsschleifen selbst,
beispielsweise klimatische Veränderungen und das Arten­
sterben. Sie befinden sich derzeit gerade erst im Frühsta­
dium. Unabhängig davon, wie schnell wir damit aufhören,
fossile Brennstoffe zu verbrauchen: Die Auswirkungen
dieser Wirtschaftsform klingen erst in Jahrtausenden ab.
Zusätzlich schafft der Mensch einen Faktor, der weit
komplexer ist als Meteoriteneinschläge oder abschmel­
zende Gletscher. Mit unseren kognitiven Fähigkeiten,
unserem Manipulationsvermögen und unseren Möglich­
keiten, Wissen weiterzugeben, haben wir eine Technik
erzeugt, die uns am Leben erhält und mit wachsendem
Tempo selbst zu evolvieren beginnt. Diese »Technosphäre«
lässt sich als Auswuchs der Biosphäre ansehen, doch ihre
Entwicklung hat eine eigene Dynamik angenommen, die
wir nur noch zum Teil kontrollieren. Es ist nicht ausge­
schlossen, dass dereinst eine computerbasierte Intelligenz
entsteht, die uns Konkurrenz macht. Unter all den globalen
Veränderungen, die die Zukunft der Erde prägen werden,
ist die Technosphäre der Joker. Sie könnte ein revidiertes
Anthropozän hervorbringen dergestalt, dass der Mensch
darin nicht länger der entscheidende Faktor ist.
Falls sich die Geologen tatsächlich für die Einführung
eines Anthropozäns entscheiden, müssen sie festlegen,
wann dieses begann beziehungsweise beginnt. Die Span­
ne der Vorschläge ist enorm breit und reicht von dem
Zeitpunkt, als menschlicher Einfluss erstmals erkennbar
wurde – vor einigen tausend Jahren – bis weit in die
Zukunft, wenn die Auswirkungen viel deutlicher als heute
zum Tragen kommen werden. Aus verschiedenen Gründen
scheint es am sinnvollsten zu sein, den Beginn des Anthro­
pozäns in die Mitte des 20. Jahrhunderts zu legen. Damals
nahmen die Bevölkerungszahl, der Energieverbrauch und
der Grad der Industrialisierung stark zu, einhergehend mit
einem steil ansteigenden Umsatz von Beton, Plastik und
Plutonium und deutlichen Veränderungen in Flora und
Fauna, die in künftigen Gesteinsschichten erkennbar sein
werden (siehe »Spuren des Menschen«, S. 56/57).
Was die Geologen jetzt brauchen, um den Beginn des
Anthropozäns klar zu definieren, ist ein »Golden Spike«:
Eine charakteristische Veränderung in den Sedimenten,
die sich möglichst weltweit nachweisen lässt. Was könnte
das sein? Radioaktive Stoffe oder Plastikpartikel? Oder ein
Indikator für biochemische Veränderungen, die sich etwa
in Baumringen oder Wachstumsbändern von Korallen
niederschlagen? Die Suche hat begonnen.

Die Menschen stellen ein


Drittel der Gesamtkörpermasse


aller Landwirbeltiere


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