Spektrum der Wissenschaft Spezial - Biologie Medizin Hirnforschung Nr3 2017

(Ann) #1

Professor Turkle, die meisten von uns gehen ständig
mit sozialen Medien um. Was macht Ihnen dabei die
meisten Sorgen?
Prof. Dr. Sherry Turkle: Mir fällt auf, dass Menschen
Alleinsein ungeheuer schlecht aushalten. Unter anderem
beobachte ich sie an Ampeln oder im Supermarkt vor der
Kasse. Kaum hat jemand nur eine Sekunde Zeit, schon
macht er was mit seinem Handy. Viele Studien besagen,
dass die Fähigkeit, allein zu sein, verschwindet. Was da-
durch passieren kann, ist: Die kurzen Momente, in denen
man sonst vielleicht einem Tagtraum nachhinge oder über
sich selbst nachdenken würde, gehen verloren. Statt in
sich hinein sieht man immerzu nach außen.


Gilt das für Menschen jeden Alters?
Ja, aber vor allem Kinder brauchen es, mit sich allein zu
sein. Für sich sein können und sich selbst entdecken ist das
Fundament von Entwicklung. Doch heute gibt man schon
den Kleinsten – sogar Kindern von zwei, drei, vier Jahren –
technische Hilfsmittel, die sie ablenken und ihnen damit das
Gefühl nehmen, mit sich allein zu sein. Paradoxerweise er-
schwert ihnen gerade dies, echte Beziehungen aufzubauen.


Vielleicht wollen Menschen sich nur nicht langweilen.
Die Leute behaupten, sie bräuchten keine Pausen für kur-


zes Abschalten. Sobald ein Freiraum auftritt, greifen sie
zum Handy. Pausen machen ihnen Angst. Gespräche zu
führen oder Beziehungen zu pflegen – wozu auch Lücken
gehören –, haben sie nicht gelernt.

Sind uns denn heute zwischenmenschliche
Beziehungen weniger wert?
Die Menschen beginnen, andere ein bisschen als Objekt
zu betrachten. Angenommen, zwei Personen haben ein
Treffen verabredet, und einer sagt zu Beginn: »Wie wär’s,
wenn wir so eine Google-Brille aufsetzen? Falls unsere
Unterhaltung mal ein bisschen stockt, kann ich meine
Mails abfragen. Das merkst du gar nicht.« Solches Verhal-
ten kann das Familienleben massiv beeinträchtigen. Wenn
beim Essen mit der ganzen Familie Tante Langweilig das
Wort ergreift, holt die kleine Nichte flugs ihr Smartphone
heraus, geht auf Facebook – und taucht in eine Welt der
Schneeballschlachten und Bal lerinas ein. Die gemeinsame
Mahlzeit ist kaputt. Früher war das wünschenswerte Ideal
der Familie, dass sich alle gemeinsam um den Tisch
versammeln. Das wurde von Facebook verdrängt.

Was ist mit Leuten, die ihr Telefon sogar im Bett im­
mer bei sich haben? Die schlafen doch, warum sollen
sie sich da allein fühlen?

SOZIALE


KONTAKTE


LASS DAS,


PAPA: NICHT


GOOGELN!


Die amerikanische Soziologin


und Psychologin Sherry Turkle


erforscht die sozialen Aus­


wirkungen der neuen Medien.


Sie warnt davor, über der


digitalen Welt das physische


Dasein zu vernach lässigen.


 spektrum.de/artikel/1343331

Sherry Turkle ist Professorin für Wissenschaft,
Technologie und Gesellschaft am MIT (Massa-
chusetts Institute of Technology) in Cambridge.
Mit ihren Büchern und anderen Veröffentli chun-
gen zu sozialen Themen der modernen Gesell-
schaft erreicht sie viele Menschen. Auf Deutsch
erschien 2012 ihr Buch: »Verloren unter 100
Freunden: Wie wir in der digitalen Welt seelisch
verkümmern«.

PETER URBAN; MIT FRDL. GEN. VON SHERRY TURKLE
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