Spektrum der Wissenschaft Spezial - Biologie Medizin Hirnforschung Nr3 2017

(Ann) #1

Ich habe genügend Mittel- und Oberschüler gefragt, ob
sie mitten in der Nacht Textnachrichten beantworten. »Ja,
klar«, höre ich dann. Sie leben nach dem Motto: Ich
nehme teil, also bin ich. Die Betreffenden fühlen sich
verpflichtet, zu reagieren. Erwartet wird ständige Erreich-
barkeit. Alle sind darauf eingestellt, immer gegenseitig Rat
und Zustimmung einzuholen. Ich habe eine Fallstudie über
eine junge Frau gemacht, die bei der Plattform Instagram
2000 Follower hat. Sie stellt abends um neun eine Frage
und bekommt um zwei Uhr nachts Antworten. Und sie
liest sie auch gleich. Eine ganze Menge Kids sind dann
also wach.


Wohin führt solch eine Lebensweise?
Wenn man nicht irgendwann innehält, glaube ich, kann
sich das Gefühl für ein autonomes Selbst nicht voll entwi-
ckeln. Man vermag dann weder private noch berufliche
Beziehungen zu führen, denn man fühlt sich nicht ganz
dazu fähig, Wichtiges selbst in die Hand zu nehmen. Man
bekommt Schwierigkeiten, weil man es gewohnt ist, über
alles und jedes erst abstimmen zu lassen.


Man »crowdsourct« sein Leben, lagert es quasi aus?
Man crowdsourct wichtige Entscheidungen. Vielleicht
merken Leute, wenn sie erst im Berufsleben stehen – aber
wohl nicht, bevor sie über 30 sind –, irgendwann, dass
ihnen das nicht mehr so recht gefällt. Dann würden sie
emotionale Fähigkeiten entwickeln, mit denen sie sich
wirklich noch nie auseinandergesetzt haben.


Was halten Sie vom Umgang mit simulierten Personen
und menschenähnlichen Robotern?
In den 1970er Jahren, als solche Fragen aufkamen, glaubte
man: Selbst wenn simuliertes Denken vielleicht tatsächlich
Denken darstellt, handelt es sich bei simuliertem Fühlen
jedoch sicher nicht um wirkliches Fühlen. Simulierte Liebe
könne niemals richtige Liebe sein. Aber heute sagen mir
Leute: Wenn »Siri« sie noch ein bisschen besser täuschen
könnte, würden sie sich gerne mit ihr unterhalten (Siri, ein
Sprachassistent, versteht gesprochene Sätze, antwortet, führt
Anweisungen aus und liefert Informationen; Anm. d. Red.).


Wäre das nicht ähnlich wie in dem amerikanischen
Sciencefiction­Liebesfilmdrama »Her«, in dem ein
Mann eine innige Beziehung zu der von ihm geschaf­
fenen weiblichen Computeranimation Samantha ein­
geht?
Ganz genau. Offenbar gilt heute: Wenn mir ein Roboter vor-
gaukeln kann, dass er mich versteht und mitfühlt, darf er
gern mein Gefährte sein. Diese Entwicklung ist bemerkens-
wert in Bezug darauf, was wir von zwischenmenschlichen
Beziehungen erwarten, gerade auch in intimen Dingen. Ich
beobachte das an Kindern wie an Erwachsenen. Die neuen
Roboter sind dafür konstruiert, uns das Gefühl zu geben, sie
würden uns verstehen. Andererseits behauptet niemand,
sie würden auch nur irgendetwas wirklich verstehen.


Welche Grenze ist da überschritten? Dass dabei
Empathie fehlt?


Es gibt keinen echten Austausch. Ich habe eine Frau be-
fragt, die sagte, sie wäre mit einem Roboter als Freund
zufrieden. Sie wünscht sich einen dieser hoch entwickelten
japanischen Roboter. Als ich bemerkte: »Aber Sie wissen
doch, dass er Sie nicht versteht?«, meinte sie: »Ach, etwas
soll mir einfach das Gefühl geben, dass ich nicht allein
bin.« Man liebäugelt auch mit Robotern, die älteren Men-
schen Gesellschaft leisten. Damit habe ich allerdings ein
moralisches Problem. Ich finde, alte Leute haben es ver-
dient, ihre Lebensgeschichte jemandem zu erzählen, der
versteht, was ein Leben ist. Sie haben Partner verloren, Kin-
der verloren. Nun sollen sie das einem Ding vortragen, das
keine Ahnung hat, was Leben oder ein Verlust bedeuten.
Mir ist der Aspekt wichtig, dass es bei diesem Wandel im
sozialen Austausch nicht nur um technologische Entwick-
lungen geht, sondern darum, wie wir uns dabei verändern.
Ich hoffe, wir werden uns bald eingehend damit auseinan-
dersetzen, wann Menschen einem Roboter bereitwillig
Menschlichkeit zuschreiben und eine Fassade von Empa-
thie als Ersatz für wahre Empathie akzeptieren. Meines
Erachtens führen solche Kontakte in die Sackgasse. Wollen
wir das wirklich immer mehr von der Technologie – und
von Menschen immer weniger?

Stellen uns Avatare und virtuelle Realität vor dieselben
Probleme? Also zum einen von Teilnehmern im Netz
ausgedachte virtuelle Stellvertreter und zum anderen
die virtuelle Welt, in die man mit Spezialgeräten mit
seinen Sinnen eintaucht?
In beidem bewegen wir uns weg vom Leben hin zu einer
Mischung aus realem und virtuellem Dasein. Ein junger
Mann brachte es sehr prägnant auf den Punkt: »Das reale
Leben ist nur eines meiner Fenster und nicht unbedingt
mein bestes.« Eine Zeit lang geriet virtuelle Realität ziem-
lich in Vergessenheit. Durch die Übernahme der Virtual-
Reality-Brille Oculus durch Facebook rückt sie wieder
mehr ins Blickfeld – Mark Zuckerbergs Fantasie, wonach
wir uns mit unseren Freunden in einer virtuellen Welt
treffen, in der jeder wie Angelina Jolie oder Brad Pitt
aussieht, in einer wundervollen Wohnung lebt und nur
zeigt, was er zeigen will. Immer mehr beginnen wir der-
gleichen für ein Wunschbild zu halten.

Kritische Stimmen sagen, dass sich ein Avatar vom
realen Ich im Grunde nicht unterscheidet.
Nun ja, wir alle schauspielern immerzu. Jetzt gerade gebe
ich meine beste Sherry Turkle. Sie ist schon ganz anders,
wenn sie im Schlafanzug herumhängt. An einem Avatar
oder bei Facebook ist allerdings noch etwas anders: Man
bearbeitet seinen Auftritt. Eine Frau postet ein Foto von
sich und manipuliert die Farben, den Hintergrund, die
Beleuchtung. Warum? Weil sie es auf bestimmte Weise
haben will. Es gefällt den Leuten, dass so etwas heute
möglich ist. Einen 18-Jäh rigen habe ich gefragt: »Was ist
an einem Gespräch so schlimm?« Die Antwort: »Dass es
in Echtzeit läuft. Man hat keine Kontrolle über das, was
man sagt.« Das lässt tief blicken. Aus demselben Grund
erledigen viele ihre Angelegenheiten lieber per E-Mail.
Hier handelt es sich nicht nur darum, den Zeitpunkt nach
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