Der Spiegel - ALE (2022-04-30)

(EriveltonMoraes) #1
WISSEN

Nr. 18 / 30.4.2022DER SPIEGEL 101

tion wahrscheinlich zu den schwere-
ren Krankheitsverläufen bei Delta
beiträgt. Außerdem, darauf deuten
weitere Erbgutveränderungen hin,
können BA.4 und BA.5 der Immun-
antwort möglicherweise noch besser
ausweichen als die bisherigen Omi-
kron-Varianten BA.1 und BA.2.
Noch gibt es dazu keine Daten aus
Antikörper-Experimenten. Und auch
zur Krankheitsschwere lässt sich bis-
lang nicht viel sagen. Aber in Süd-
afrika steigen die Fallzahlen und Hos-
pitalisierungen bereits an. Auch in
Deutschland und in der Schweiz wur-
den die beiden Subvarianten schon
nachgewiesen, ebenso etwa in Groß-
britannien, Frankreich, in den USA
und Hongkong.
Droht also auch in Deutschland,
kaum dass die Maskenpflicht weit-
gehend abgeschafft und die Rückkehr
zur Normalität verkündet wurde,
schon wieder die nächste Welle? Ist
das, was sich in Südafrika abzeichnet,
vielleicht sogar der künftige Rhyth-
mus der Endemie – alle sechs Mona-
te ein neuer Anstieg der Krankheits-
fälle mit einem leicht veränderten
Virus, wahrscheinlich, wenn die Im-
munität, die in der Bevölkerung
durch eine vorangegangene Infek-
tionswelle entstanden ist, wieder ab-
flaut?
Werden die Bürger mit einer Art
zweiten Grippe leben müssen, die je-
doch doppelt so häufig im Jahr auftritt
wie die Influenza und wahrscheinlich
mindestens doppelt so tödlich ist?
Oder wird in den kommenden Mo-
naten, so wie bei Alpha, Delta und
Omikron, noch einmal eine neuartige
Sars-CoV-2-Variante auftauchen, die
alle Planungen und Überlegungen auf
den Kopf stellt?
Die Einschätzungen von Wissen-
schaftlerinnen und Wissenschaftlern
unterscheiden sich deutlich. Einig
sind sie sich nur darin, dass jede Vo-
raussage schwierig ist.
»Das Virus hat uns noch jedes Mal
überrascht«, sagt de Oliveira. Ob die
kommenden Monate Ruhe vor dem
Virus brächten, hält auch die Epide-
miologin Emma Hodcroft von der
Universität Bern noch für unklar: »Es
ist ein bisschen so, als würde man den
sonnigsten Sommer aller Zeiten vor-
hersagen: Man weiß erst, ob man
richtig lag, wenn er vorbei ist.« Frü-
hestens nach vielen Monaten oder
sogar Jahren ohne große Veränderun-
gen könne man sicherer sein mit Vor-
hersagen über die weitere Entwick-
lung von Sars-CoV-2.
Auch Cambridge-Professor Ravin-
dra Gupta, der entschlüsselte, warum
Omikron weniger Schäden in der


Lunge verursacht als andere Varian-
ten, warnt vor schnellen Gewisshei-
ten: »Wir befinden uns noch in einer
sehr frühen Phase der Virusevolu-
tion.«
Fest steht, dass schon die Omi-
kron-Varianten BA.1 und BA.2 zu
den ansteckendsten Erregern gehö-
ren, die derzeit zirkulieren. Und das
macht sie, obwohl die Erkrankung
milder verläuft als bei Alpha und Del-
ta, so gefährlich. In Deutschland star-
ben in der laufenden Woche rund
1400 Menschen an BA.1 und BA.2.
Die USA verzeichnen bald den mil-
lionsten Coronatoten – und das ist
nur die offizielle Zahl. BA.1 und BA.2
werden vom chinesischen Regime
als so große Gefahr gesehen, dass es
25 Millionen Einwohner Shanghais
in deren Wohnungen eingesperrt
hält, als wäre die Stadt ein giganti-
sches Gefängnis, die leeren Straßen
seine Flure.
Und neue Varianten, meint Gupta,
könnten sogar noch ansteckender
sein.
Allerdings haben sich in den USA,
so stellte sich am Dienstag in einer
großen Studie heraus, bereits fast 60
Prozent der Bevölkerung infiziert,
darunter drei von vier Kindern. An-
gesichts solch hoher Grundimmunität
in vielen Ländern, glaubt Tulio de
Oliveira, liege vielleicht das Heil des
Virus nicht mehr so sehr in seiner bes-
seren Übertragbarkeit. Vielmehr kön-
ne sich jetzt ein Virus durchsetzen,

das die Immunität am besten zu um-
gehen vermag.
So kann Sars-CoV-2 inzwischen
nicht nur die sogenannte erworbene
Immunität auszutricksen, die Anti-
körper, die sich nach einer Impfung
oder Infektion bilden, sondern auch
die sogenannte unspezifische Immu-
nität, bei der ein Botenstoff namens
Interferon eine wichtige Rolle spielt.
»Die Interferonantwort ist der am
schnellsten reagierende Teil unseres
Immunsystems und kann eine Infek-
tion direkt am Start auszubremsen«,
erklärt der Virologe Friedemann We-
ber von der Universität Gießen. Gut
angepasste Viren umgingen diese
Abwehr mithilfe raffinierter Tricks.
»Wir haben beobachtet, dass BA.1
der Interferonantwort besser stand-
hält als Delta, dass aber Delta auch
schon resistenter ist als das ursprüng-
liche Virus aus Wuhan«, so Weber. Es
könnte bei den Varianten also einen
Trend in Richtung zunehmender Re-
sistenz gegen Interferon geben.
Dadurch, dass das Virus sich an-
passe an die nach einigen Monaten
ohnehin abnehmende Immunität der
Menschen, so Weber, sei damit zu
rechnen, dass es »in regelmäßigem
Abstand wiederkehrt«.
Allerdings nicht unbedingt im
Halbjahresrhythmus, glaubt Christian
Drosten, Leiter der Virologie an der
Berliner Charité. »Gegen Sommer-
wellen in gemäßigten Breiten arbei-
ten zwei Effekte«, so der Forscher,
»die nach jedem Winter auftreten und
dann monatelang die Übertragung
minimieren«: Zum einen sei dies der
»Temperatureffekt« und zum ande-
ren die »höhere Übertragungsimmu-
nität durch die abgelaufene Win-
terwelle«. Sprich: Viele haben sich
angesteckt und sind noch immun
gegen das Virus.
Aber so regelhaft saisonal mit
einer Winterwelle im Jahr wird es
wohl erst laufen, wenn die pandemi-
sche Phase vorbei sei. Und derzeit,
sagt Drosten, gebe es »wohl noch kein
Land auf der Erde«, in dem die ende-
mische Phase abschließend erreicht
sei. »Mit Omikron ist der Übergang
in die endemische Phase weltweit in
die Länge gezogen worden.«
Auch die Genfer Virologin Isabel-
la Eckerle meint, man könne die Si-
tuation in Südafrika »nur bedingt«
auf Europa übertragen. Doch sie
fürchtet: »Wenn sich die Tendenz
weiter abzeichnet, könnte das für eine
erneute Welle sprechen.«
Und die Vorstellung, dass Viren
auf Dauer immer harmloser werden,
um ihre Wirte zu schonen, ist ein hart-
näckiger Mythos, der sich um die

»Wenn sich
die Tendenz
weiter
abzeichnet,
könnte das
für eine
erneute Welle
sprechen.«
Isabella Eckerle,
Virologin

Frühlingsfest in
München: Hoffnung
auf sorgenfreie
Monate

Anoush Abrar / 13 Photo

Frank Hoermann / Sven Simon / ddp images
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