Der Spiegel - ALE (2022-04-30)

(EriveltonMoraes) #1

WISSEN


104 DER SPIEGELNr. 18 / 30.4.2022


A


ls Benjamin Ehrlich zum ersten Mal die
feinstrichigen Tintenzeichnungen von
Santiago Ramón y Cajal erblickte, ver-
spürte er ein Kribbeln in der Schulter. »Es wan-
derte, als ob es einer Zündschnur folgte, durch
mein Inneres, bis es mein Herz erreichte«, er-
zählt er. »Dann begann ich zu schluchzen.«


Damals, vor zwölf Jahren, litt Ehrlich unter
Depressionen. Der in New Jersey heimische
Schriftsteller hatte die Fähigkeit verloren, Freu-
de zu empfinden. Er spürte sich selbst nicht
mehr. Die Begegnung mit Cajals Zeichnungen,
sagt Ehrlich, habe er als Erweckung erlebt: »Auf
seltsame Weise verdanke ich ihm mein Leben.«

Der Mann, der die Zeichnungen erschuf,
ist seit mehr als 87 Jahren tot. Dass seine Wer-
ke bis heute zu Tränen rühren können, mag
überraschend anmuten. Denn Santiago Ra-
món y Cajal hat zeitlebens vornehmlich nur
ein Motiv dargestellt: Nervenzellen.
So einseitig dies auch erscheinen mag, so
hat Cajal damit doch einen ganzen Kosmos
erschlossen. Historiker sind sich einig, dass
er mit seinen Zeichnungen Wissenschafts-
geschichte geschrieben hat. Mit ihnen be-
gründete Cajal die moderne Hirnforschung.
Damit ist er für die Neurobiologie ebenso
bedeutsam wie Charles Darwin für die Evo-
lutionsbiologie.
Es ist bezeichnend, welche Wirkung Cajals
Zeichnungen selbst auf Laien wie Ehrlich
ausüben. Der US-Schriftsteller hatte von
Naturwissenschaften keine Ahnung, ehe
er über Cajals Neuronendarstellungen stol-
perte. Über das Gehirn wusste er nicht mehr,
als dass es die Ursache seines seelischen Lei-
dens war.
Doch als er die kleinen Zellkörperchen auf
Cajals Zeichnungen sah, von denen vielfach
verzweigte Ästchen ausstrahlten, die sich ih-
rerseits mit anderen Nervenzellen vernetzen,
da wurde ihm klar, dass dieses fremdartige
und doch so vertraut anmutende Geflecht auf
unheimliche Weise etwas mit ihm zu tun hat-
te. Unvermittelt glaubte er, sich selbst wieder
zu spüren – und er beschloss, die Lebensge-
schichte jenes Mannes zu schreiben, der ihm
dazu verholfen hatte. Nun hat er Cajals Bio-
grafie veröffentlicht*.
Der zeichnende Hirnforscher, dessen
Leben Ehrlich schildert, ist auch in der
an Exoten reichen Welt der Wissenschaften
eine Ausnahmeerscheinung. Geboren in
einem nur über Eselspfade erreichbaren Berg-
dorf in den Ausläufern der Pyrenäen und
ausgebildet im naturwissenschaftlichen
Niemandsland Spanien, brachte er es, aus-
gestattet mit einem gewöhnlichen Licht-
mikroskop, einem Rasiermesser und ein paar
billigen Chemikalien, bis zum Nobelpreis.
Seine einzigen weiteren Hilfsmittel: Feder,
Tinte und eine außergewöhnliche Beobach-
tungsgabe.
Als Kind tat sich Cajal in der Schule schwer.
»Unaufmerksam, faul, ungehorsam und ein
Störenfried«, erinnerte sich einer seiner Leh-
rer. Ein anderer meinte: »Er wird im Gefäng-
nis landen, wenn er nicht vorher gehängt
wird.« Auch Cajals Vater, ein Wundarzt, hielt
seinen Sohn für einen Versager. Er wollte,
dass Santiago in seine Fußstapfen trete. Doch
der trieb nur Unfug, oder er hing romanti-
schen Träumereien nach. Der Vater ließ ihn
hungern, schlug ihn blutig, kniff ihn mit Zan-
gen. »Ein absoluter Terror«, schrieb Cajal
später in seiner Autobiografie.
Zuflucht suchte Cajal in der Malerei. Wo
er auch war, zeichnete und malte er, wie strikt

Das Geheimnis des


Geistes


NEUROBIOLOGIE Eine Biografie erzählt das faszinierende Leben von


Santiago Ramón y Cajal, der in einem entlegenen Bergdorf aufwuchs,


eigentlich Künstler werden wollte, mit seinen anatomischen


Zeichnungen die moderne Hirnwissenschaft begründete und dafür den


Nobelpreis für Medizin erhielt.


Hirnforscher Cajal um 1885: »Schmetterlinge der Seele«


* Benjamin Ehrlich: »The Brain in Search of Itself –
Santiago Ramón y Cajal and the Story of the Neuron«.
Farrar, Straus and Giroux, New York; 464 Seiten.

Cajal Legacy / Instituto Cajal (CSIC)
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