Der Spiegel - ALE (2022-04-30)

(EriveltonMoraes) #1
WISSEN

Nr. 18 / 30.4.2022DER SPIEGEL 105

es ihm der Vater auch verbieten mochte. San-
tiago glaubte, er sei dazu bestimmt, ein
neuer Velázquez zu werden. Und tatsächlich
sollte es später der Zeichenstift sein, der ihm
den Weg in die Forschung wies. »Santiago
trat durch die Pforte der Kunst ins Schloss der
Wissenschaft ein«, sagte sein jüngerer Bruder
Pedro.
Doch zunächst fügte sich Santiago dem
Vater. Er studierte Medizin in Saragossa, auch
wenn er dabei noch immer nicht die Leiden-
schaften zeigte, die einen guten Arzt aus-
zeichnen. Während des Studiums habe er vor
allem drei »Manien« gepflegt, schrieb Cajal
über sich selbst: Gewichtheben, Gedichte-
schreiben und Philosophieren.
Der erste Blick durch ein Mikroskop wur-
de für Cajal dann zu einem Erlebnis, das sein
Leben veränderte. Ein Assistent hatte einen
mit Curare gelähmten Frosch präpariert. In
dem noch lebenden Tier konnte Cajal live
eine Entzündungsreaktion verfolgen. »Be-
zaubert und tief bewegt«, so Cajal, habe er
beobachten können, wie sich die weißen Blut-
körperchen durch die Blutgefäße zwängten.
»Ein erhabenes Spektakel«, schrieb er:
»Plötzlich wurde ein Schleier von meiner See-
le gelüftet.«
Fortan wurde das Mikroskop zum Mittel-
punkt von Cajals Leben. Ganze Tage ver-
brachte er in einem mit Tinte bekleckerten
Labormantel, gebeugt über das Okular, und
zeichnete. All die Wunderdinge, die er dort
sah, wollte er festhalten – und der Welt kund-
tun. Cajal nahm sich vor, im Alleingang zu
beweisen, dass Spanien als Wissenschafts-
nation ernst zu nehmen sei.
Er zeichnete die Purkinjezellen des Klein-
hirns mit ihrem ausladenden Geflecht busch-
artig verästelter Ranken. Er zeichnete die
Zapfen und Stäbchen der Netzhaut mit ihren
kammartig angeordneten Lamellen. Und er
zeichnete die grazilen Pyramidenzellen des
Hippocampus, die ihm »wie Pflanzen im Gar-
ten« erschienen.
Vor allem aber erkannte er als Erster, dass
Nervenzellen in sich abgeschlossene Gebilde
sind. Cajal hatte damit die Grundbausteine
des Nervensystems entdeckt oder, wie er
selbst es in seiner oft romantisch verklärten
Ausdrucksweise formulierte, »die Schmetter-
linge der Seele, deren Flügelschlag uns der-
einst die Geheimnisse des Geistes verraten
könnte«.
Cajals »Neuronendoktrin« stand in ekla-
tantem Widerspruch zur damals vorherr-
schenden Lehre. Zwar hatte sich im Laufe des



  1. Jahrhunderts die Einsicht durchgesetzt,
    dass alle Organe des Körpers aus einzelnen
    Zellen aufgebaut sind. Doch gingen die Ana-
    tomen davon aus, dass das Nervensystem eine
    Ausnahme von dieser Regel darstelle. Einem
    großen Spinnennetz gleich durchdringe es
    den gesamten Körper als ein zusammenhän-
    gendes Gebilde. »Retikulum« wurde dieses
    genannt.
    Der Außenseiter in Spanien hatte es nicht
    leicht, sich mit seiner Auffassung durchzu-


setzen. 1888 brachte er, inzwischen 36-jährig,
seine Thesen im Selbstverlag heraus. Alle
Lithografien ätzte er selbst, dann ließ er
60 Exemplare drucken, die er an die Kory-
phäen der großen Wissenschaftsnationen ver-
schickte. Bang und vergebens wartete er auf
Antworten.
Das Schweigen der Fachwelt bekümmerte
Cajal, doch ließ er sich davon nicht beirren.
Unermüdlich brütete er in seiner Dachkam-
mer über dem Mikroskop, um den Neuronen
immer neue Geheimnisse zu entlocken. Wie
im Rausch schrieb er Artikel um Artikel, vie-
le davon gelten heute als Pionierarbeiten der
Hirnforschung. Rückblickend bezeichnete
Cajal 1888 später als sein »Goldenes Jahr«.
Um endlich international Gehör zu finden,
lud sich Cajal kurzerhand selbst auf die Ta-
gung der Deutschen Anatomischen Gesell-
schaft ein. All sein Geld musste er zusammen-
raffen, um die Reise nach Berlin bezahlen zu
können.
Es muss ein Bild zum Erbarmen gewesen
sein, wie der des Deutschen nicht mächtige
Spanier in holprigem Französisch um die Auf-
merksamkeit der versammelten Kollegen
buhlte. Und doch wurde der Berliner Kon-
gress sein Durchbruch. Denn irgendwann ge-
lang es ihm, den großen Würzburger Ana-
tomen Albert Kölliker zu nötigen, einen Blick
durch sein Mikroskop zu werfen.
Kölliker war überwältigt. Als Cajal wenige
Tage später Berlin verließ, hatte er die Ach-
tung der wissenschaftlichen Welt gewonnen.

Zum Showdown über seine »Neu-
ronendoktrin« kam es erst in Stockholm. Im
Jahr 1906 war er dorthin geladen, um den
Nobelpreis für Medizin entgegenzunehmen.
Sosehr ihm diese Ehre schmeichelte, empfand
er es doch als »grausame Ironie des Schick-
sals«, dass ihm die Urkunde gemeinsam mit
dem Italiener Camillo Golgi überreicht wer-
den sollte, dem prominentesten Vertreter der
konkurrierenden Retikulumstheorie.
Es war die erste Begegnung der beiden
Gelehrten, und sie endete im Eklat. Kaum
dass die Laureaten ihre Trophäen erhalten
hatten, fielen sie übereinander her. Den An-
fang machte Golgi. In seiner Nobelpreisrede
hielt er sich gar nicht erst damit auf, seine
eigene Forschung zu referieren. Stattdessen
setzte er sofort zum Angriff gegen Cajals Dok-
trin an, die er als »kapriziös, verdreht und
widerlegt« bezeichnete. Er selbst rühmte sich,
in keiner seiner Arbeiten je das Wort
»Neuron« verwendet zu haben. Es handle
sich um ein Phantom, für das kein Platz im
Reich der Wissenschaft sei.
Der so Attackierte antwortete in seinem
Vortrag mit geheucheltem Bedauern. Erst zer-
pflückte er alle Argumente seines Widersa-
chers, dann wandte er sich diesem persönlich
zu: »Wir trauern um einen Wissenschaftler,
der in den letzten Jahren eines so erfüllten
Lebens zusehen muss, wie eine Phalanx jun-
ger Experimentatoren seine höchst eleganten
und originellen Entdeckungen als Irrtümer
entlarvt.« Nie wieder wurde auf der Stock-
holmer Nobelpreisbühne eine wissenschaft-
liche Fehde so verbittert ausgetragen.
Schon damals war in der Fachwelt klar, dass
Cajal den Sieg davongetragen hatte. Seine
Neuronendoktrin hatte sich durchgesetzt, auch
wenn Golgi dies nicht wahrhaben wollte. Zu-
dem hatte Cajal nicht nur die Existenz der
Neuronen bewiesen, sondern auch tiefe Ein-
sichten über ihre Funktion gewonnen.
So hatte Cajal entdeckt, dass die Nerven-
zellen über den schmalen Spalt, der sich zwi-
schen ihnen auftut, miteinander kommuni-
zieren. Und er hatte verstanden, in welche
Richtung Informationen durchs Nervenge-
flecht fließen: Die Zellen nehmen Reize über
das feine Geäst ihrer Dendriten auf, um dann
Signale durch den vom Zellkörper fortfüh-
renden Strang des Axons auszusenden.
Geradezu visionär ahnte Cajal viele Prin-
zipien der neuronalen Verschaltung voraus.
So war er es, der die Bedeutung der bis heu-
te in den Neurowissenschaften als zentral er-
achteten »Plastizität« erkannte. Er begriff,
dass das Geflecht der Nervenzellen im Gehirn
fortgesetzter Veränderung unterworfen ist
und dass die geistige Aktivität als treibende
Kraft dabei wirkt.
Dies führte den spanischen Hirnforschungs-
pionier zu einer Einsicht, die ein Jahrhundert
später seinem Biografen half, den Weg aus
seiner Depression zu finden. In den poetischen
Worten des Meisters: »Jeder kann zum Bild-
hauer seines eigenen Gehirns werden.«
Johann Grolle n

»Santiago trat durch die
Pforte der Kunst ins Schloss
der Wissenschaft ein.«
Pedro Ramón y Cajal

Cajal-Zeichnung einer Purkinjezelle

Santiago Ramón y Cajal / Kharbine-Tapabor / IMAGO
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