Der Spiegel - ALE (2022-04-30)

(EriveltonMoraes) #1
108 DER SPIEGELNr. 18 / 30.4.2022

KULTUR


K


unst von Barbara Kruger darf manchmal
betreten werden. Nämlich dann, wenn sie
ihre riesigen Textbilder auf Böden ausbrei­
tet. Nun hat die Konzeptkünstlerin aus den USA
ein Werk für die Neue Nationalgalerie Berlin er­
sonnen. Dafür ließ sie die gerade frisch renovier­
ten Teppiche und Sechzigerjahrevorhänge entfer­
nen und überzog den Steinboden des Erdgeschos­
ses mit riesigen Schriftzügen in Schwarz, Weiß
und Rot. Besucher wandeln auf Parolen, Witzen
und Aufforderungen, die Kruger mit Zitaten von
Walter Benjamin, James Baldwin und George
Orwell kombiniert. Sie hoffe, dass sich durch ihre
plakative Ästhetik die Besucher der modernis­
tisch strengen Ausstellungshalle Ludwig Mies van
der Rohes mit »Ideen über Geschichte und Zu­
kunft, über Angst und Hoffnung und über die
Verwendung und den Missbrauch von Macht« be­
schäftigen, sagt Kruger.
Ihre Arbeit kann auch als Analogie zu digitalen
Medien gelesen werden. Denn wer auf Krugers
Texten herumspaziert, kann immer nur einen Aus­
schnitt wahrnehmen – für ein vollständiges Er­
fassen brauchte es mehr Abstand. Ihre kurzen Slo­
gans wirken grafisch und direkt. Längere Texte

hingegen »funktionieren nur im Prozess, wenn
man durch den Raum geht, wenn man über die
Wörter geht und durch sie hindurch«, so Kruger.
In die Mitte ihrer Installation hat die Künstle­
rin ein bedrohliches Orwell­Zitat aus dem Roman
»1984« gesetzt: »Wenn Sie sich ein Bild von der
Zukunft machen wollen, dann stellen Sie sich
einen Stiefel vor, der auf einem menschlichen Ge­
sicht herumtrampelt, für immer.« Das erinnert
an die Brutalität des Krieges in der Ukraine, je­
doch sollten Kruger­Slogans nicht mit konkreten
politischen Ereignissen verbunden werden. Ort
und Zeit bestimmen immer wieder neu, was der
Betrachter mit den Parolen verbindet.
Kruger, 77, gehört zur ersten Generation femi­
nistischer Künstlerinnen. Sie begann als Gra­
fikerin für Magazine wie »Mademoiselle« und
»House & Garden« und wurde mit Slogans wie
»I Shop Therefore I Am« (1987) und »Your Body
Is a Battleground« (1989) zu einer Größe der
Appropriation Art, die vorgefundene Mittel zi­
tiert und verfremdet. Als Kapitalismuskritikerin
wünscht sich Kruger, dass kein Kunstwerk mehr
als 1500 Dollar kostet, doch räumt sie auch ein,
»so funktioniert der Kunstmarkt leider nicht«. CPA

Die Macht der Worte


AUSSTELLUNGEN Die Neue Nationalgalerie zeigt eine Schau der US-Amerikanerin
Barbara Kruger – ihre Slogankunst wirkt auch heute noch.

Kiew oder Kyjiw?


ANALYSE Wer die Begriffe be­
stimmt, der bestimmt die Wahr­
nehmung. Das ist eine zentrale
Annahme jeder Identitäts­
politik. Wer eine Identität hat,
sollte selbst festlegen dürfen,
wie er oder sie heißt – oder der
Ort, an dem man lebt. Neh­
men wir den Fall Ukraine: Der
SPIEGEL schreibt die Haupt­
stadt »Kiew«. Andere Medien
berichten aus Kyiv. Oder
Kyjiw. Oder Ky ïv.
Die ukrainische Geschichte
ist kompliziert. Ein Teil
des Landes gehörte lange zum
Russischen Reich. Ein ande­
rer zur Habsburger Monarchie.
Die Westukraine wiederum
war für eine Weile polnisch­
litauisch. Dann gab es zwar
in der Zeit der Sowjetunion
eine ukrainische Sowjetrepub­
lik. Unter Lenin wurde die
ukrai nische Sprache gefördert,
unter Stalin unterdrückt.
1991 wurde die Ukraine unab­
hängig – viele Menschen
strebten nach Westen, andere
nach Osten, es wurde Russisch
gesprochen und Ukrainisch.
Das Land wuchs als multikul­
tureller, bilingualer Staat zu­
sammen.
Bis der Krieg kam, der – so
viel kann man jetzt schon sagen


  • die russischen Anteile im
    Selbstbild der Ukraine verklei­
    nern wird. ist die russi­
    sche Schreibweise, aus der sich
    »Kiew« ableitet, die ukraini­
    sche Form überträgt sich
    als »Kyiv« oder »Kyjiw«. War­
    um schreiben wir also Kiew
    und nicht Kyiv? Aus Weißruss­
    land wurde während der Pro­
    teste 2020 doch Belarus? Und
    Charkow ist zu Charkiw gewor­
    den. Andere deutsche Medien
    und auch das Außenministe­
    rium setzen auf die Macht des
    eingeführten Begriffs – wie
    der SPIEGEL. »Kiew« kennt ein­
    fach jeder.
    Ob das so bleiben wird, ist
    offen. Je länger der Krieg
    geht, desto ukrainischer wird
    das Land werden. Tobias Rapp


Kruger-Installation »Belief + Doubt« in Washington 2021

Courtesy the artist, Hirshhorn Museum and Sculpture Garden, and Sprüth Magers / Photo: Cathy Carver

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