Der Spiegel - ALE (2022-04-30)

(EriveltonMoraes) #1
Nr. 18 / 30.4.2022DER SPIEGEL 109

Nicht mehr als ein
Abziehbild
NETFLIX Kommt ein junger
Mann aus einer strengen Reli-
gionsgemeinschaft in den USA
nach Berlin und findet in der
deutschen Hauptstadt ein Le-
ben in Freiheit und Freude. Mo-
ment – war das in der Netflix-
Miniserie »Unorthodox« nicht
eine junge Frau? Schon, aber
weil sich der erfolgreiche Vier-
teiler nach dem Bestseller von
Deborah Feldman nicht fort-
setzen ließ, schickt der Strea-
mingdienst nun eben den Film
»Rumspringa« ins Rennen:
die Geschichte Jacobs (Jonas
Holdenrieder), eines jungen
Amischen, der in der deutschen
Hauptstadt seinen Onkel be-
sucht und vor der Hochzeit und
einem zukünftig keuschen Le-
ben noch einmal über die Strän-
ge schlagen darf. Eben rum-

springa, wie dieser Übergangs-
ritus bei den Amish heißt, jener
Glaubensgemeinschaft, die vor
allem in Pennsylvania in Pferde-
kutschen durch die Gegend
zuckelt und ein gutturales Pfäl-
zisch mit amerikanischem Ein-

schlag spricht. Mehr als ein Ab-
ziehbild dieser Menschen, die
in rührender Ahnungslosigkeit
den Gepflogenheiten woker
Großstädter gegenüberstehen,
hat »Rumspringa« allerdings
nicht zu bieten. Nicht einmal

der Dialekt sitzt richtig, und die
angeblich in den USA spielen-
den Szenen sind ganz offen-
sichtlich auch in Deutschland
entstanden. Richtig ärgerlich
machen diesen Film aber die all-
zu offensichtlichen Gegensätze:
hier der niedlich hilflose Jacob,
der nicht weiß, wie man flirtet,
aber Bäume fällen kann; da der
großspurige Großstadtzampano
(Timur Bartels), der im Cabrio
durch Berlin rast, sich ohne in-
neren Kompass aber heimlich
verloren fühlt. »Unorthodox«
zeigte, was es bedeutet, wenn
einem eine weltabgewandte Re-
ligionsgemeinschaft den Atem
raubt, wie schwierig es aber
auch ist, in der Freiheit Luft zu
holen. »Rumspringa« nun will
nicht mehr sein als Material
für die eitle Selbstbespiegelung
eines Publikums, das sich
selbst für unglaublich aufgeklärt
hält. KAE

Träumen bis zum
Wake-up Call
POP Als Kelly Lee Owens’ De-
bütalbum erschien, schrieben
die Kritiker noch von »Dream
Pop«, doch mit Pop hat die
33-jährige Waliserin auf ihrem
neuen Album fünf Jahre später
fast nichts mehr zu tun. Früher
lief ihre Musik bei den Laufsteg-
Shows des inzwischen verstor-
benen Modemachers Alexander
McQueen, heute haben ihre
Songs das Schema aus Strophe
und Refrain abgestreift. Eigent-
lich kann man sie kaum noch
Songs nennen, eher Tracks,
Klangflächen mit Tontupfern.
Ihr neues Album »LP.8« kennt
keine Hits mehr, es scheint we-
der in die Radiorotationen noch
in die Spotify-Playlisten zu
drängen. Die Videos dazu sind
fern des Bombasts oder der
Effekthascherei, in ihnen ver-
schwimmen Owens’ Konturen.
So wenig »LP.8« noch mit den
ungeschriebenen Gesetzen des
Pop zu tun hat, so sehr erinnert
das Album an die großen Un-
wägbarkeiten, an die Unvoll-
kommenheit, an die mal schön,
mal verstörend wirkende fase-
rige Natur von Träumen und
an die Selbstverständlichkeit
des Tods: Bevor sie Musikerin
wurde, war Owens Hilfskran-
kenschwester auf einer Krebs-
station in Manchester. Später

kollaborierte sie mit Björk –
und auch das hört man. Von
weit her kommen Stimmen
näher, doch was sie meinen
könnten, bleibt unverständlich.
Es klopft, es flirrt, es wabert.
Der Wind rauscht. Oder atmet
jemand aus? Eine Frau haucht
jedenfalls, so viel lässt sich sagen.
Geht es ihr gut? Ist sie bloß
müde, leidet sie? Jemand klim-
pert auf einem Klavier, weit
weg. Dann ein heller Klang, es
könnte der Sonnenaufgang
sein. Das ist keine Traumpop-
musik. Das ist Traummusik.
Und wenn Kelly Lee Owens
schließlich »This is a Wake-up
Call« sprechsingt, dann ist
man ganz plötzlich – und lei-
der – wieder wach. SKR

In Tildas Kopf


KINO Nicht zwischen Himmel
und Hölle und doch in einer Art
Limbo findet man sich wieder,
sobald man in einen Film des
thailändischen Meisterregisseurs
Apichatpong Weerasethakul
gerät. Zwischen Zeitgeschichte
und privaten Obsessionen sind
die preisgekrönten Werke ange-
siedelt, verbinden Themen wie
etwa die Folgen der thailändi-
schen Militärdiktatur mit homo-
erotischen Erkundungen und
sind dabei das Gegenteil von ver-
kopft: Sie erschließen sich
allein durch die Sinne, im Falle
von »Memoria« (Start: 5. Mai)
durch das Gehör. Die Britin
Jessica (Tilda Swinton) ist
zu Besuch bei ihrer Schwester
in Bogotá, als sie ein explo-

sionsartiges Geräusch wahr-
nimmt, das aber offenbar nur
sie hört und möglicherweise
Symptom einer nicht aufgear-
beiteten psychischen Belastung
ist. Die Suche nach seinen
Ursachen mündet in einer Reise,
die zu gleichen Teilen durch
Kolumbien sowie das Kopfkino
von Jessica führt: Entdeckungen
über die gewaltvolle Geschichte
des Landes verweisen immer
auch auf ihre persönliche Situa-
tion. Am Ende von »Memoria«
gibt es eine fantastische Erklä-
rung für das Geräusch. Hat man
sich in den Film erst einmal ein-
gefühlt, möchte man sie aber
gar nicht mehr so genau wissen.
Lieber verharrt man für immer
mit Swinton und Weerasethakul
in ihrem rauschhaften Zwi-
schenzustand. HPI

Holdenrieder in »Rumspringa«

Swinton in
»Memoria«

Owens

Port au Prince / MUBI


Gordon Muehle / Constantin Film / Netflix

Sarah Stedeford
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