Der Spiegel - ALE (2022-04-30)

(EriveltonMoraes) #1
Nr. 18 / 30.4.2022DER SPIEGEL 11

»Die Lichtverschmutzung


ist enorm«


DIE AUGENZEUGIN Sarah Mohs, 33, erklärt, wie
sie erreichen will, dass flackernde Leuchtreklamen
aus der Stadt verschwinden.

»2017 fiel uns in Berlin auf,
dass sehr viele großflächige
Werbekampagnen in der Stadt
hingen und immer mehr digi-
tale Werbeanlagen auftauch-
ten. Denen kann niemand
entgehen. Wir haben damals
zu fünft die Initiative ›Berlin
Werbefrei‹ gegründet. Der öf-
fentliche Raum gehört allen
und sollte von allen mitgestal-
tet werden. Werbung ist das
genaue Gegenteil.
Etwa 30 Menschen haben
Unterschriften gesammelt, um
einen Volksentscheid herbei-
zuführen. Die erste Stufe war
erreicht, als wir 42 000 Unter-
schriften zusammenhatten,
nur 20 000 wären nötig gewe-
sen. Die haben wir mit einem
Gesetzentwurf bei der Berli-
ner Senatsverwaltung einge-
reicht, aber der Entwurf wur-
de von der Verwaltung für
unzulässig erklärt und dem
Berliner Verfassungsgericht
vorgelegt. Das hat uns Nach-
besserungen ermöglicht. Die
haben wir eingereicht.
Einer Schätzung des Senats
zufolge können der Stadt
30 Millionen Euro verloren
gehen, wenn öffentliche Wer-
bung wegfällt. Das entspricht
0,1 Prozent des Landeshaus-
halts. Aus unserer Sicht soll-
ten wir das für eine lebens-
wertere Stadt aufbringen.

An Litfaßsäulen wollen wir
nicht ran. Sie sollten zur Hälf-
te mit Veranstaltungs- und mit
gemeinnütziger Werbung be-
spielt werden. Auch Wahlwer-
bung spielt für uns keine Rolle,
uns stören die großformatigen
Plakate und besonders die di-
gitalen und elektronischen
Werbetafeln. Die davon aus-
gehende Lichtverschmutzung
und der Stromverbrauch sind
enorm: Jedes sogenannte
Citylight-Poster, das sind die
kleineren mit zwei Quadrat-
meter Werbefläche, ver-
braucht, beidseitig betrieben,
etwa 15 000 Kilowattstunden
im Jahr, etwa so viel wie zehn
Ein-Personen-Haushalte.
Inzwischen haben wir eine
Partnerorganisation in Ham-
burg, ›Hamburg Werbefrei‹,
sie hat vergangenen Montag
begonnen, Unterschriften zu
sammeln. Wenn alles klappt,
können wir 2024 gemeinsam
mit Hamburg die Menschen in
einem Volksentscheid über
weniger Werbung in ihren
Städten abstimmen lassen.
Intensive Gegenreaktionen
hatten wir bei den Unter-
schriftensammlungen kaum –
obwohl in Berlin viele Werber
arbeiten. So einige davon ha-
ben auch unterschrieben.«

»Auswüchse
beseitigen«
Der Mainzer Staatsrechtler Mat-
thias Bäcker, 46, über die Folgen
des von ihm erstrittenen Grund-
satzurteils des Bundesverfas-
sungsgerichts zum bayerischen
Verfassungsschutzgesetz


SPIEGEL: Herr Bäcker, Karlsru-
he hat große Teile des bayeri-
schen Verfassungsschutzgeset-
zes für verfassungswidrig er-
klärt. Hat das auch Folgen für
andere Länder und den Bund?
Bäcker: Was das Gericht gesagt
hat, ist rechtlich bundesweit re-
levant. Es gibt kein einziges Ge-
setz, das die Vorgaben des
Urteils vollständig erfüllt. Und
selbstverständlich sollte es nun
nicht nur in Bayern den politi-
schen Willen geben, dieses
Urteil umzusetzen – immerhin
hat es Gesetzeskraft.
SPIEGEL: Aus dem Verfassungs-
schutzverbund hieß es, man
werde das Urteil prüfen.
Bäcker: Das ist schön. Aber das
Ergebnis dieser Prüfung kann
nur lauten, dass das gesamte
Verfassungsschutzrecht umfas-
send reformiert werden muss.
SPIEGEL: Wo sind Defizite?
Bäcker: Das sieht man gut am
sächsischen Gesetz, das typisch
ist: Da heißt es, der Verfas-
sungsschutz dürfe »Methoden,
Gegenstände und
Instrumente zur
heimlichen Informa-
tionsbeschaffung«
einsetzen, wenn so
Erkenntnisse über
verfassungsfeindli-
che Bestrebungen
gewonnen werden
können. Das ist sehr
pauschal, geht sehr


weit, und diese Schwelle ist sehr
niedrig.
SPIEGEL: Was verlangt das Bun-
desverfassungsgericht?
Bäcker: Es hat klargemacht, dass
alles, was eine stärkere Eingriffs -
intensität hat – etwa V-Leute,
lang andauernde Observatio-
nen, komplexe Abhörtechnik
oder Zugriff auf Daten in größe-
rem Umfang – im Grunde nur
zulässig ist, wenn es um Gewalt
und Straftaten geht. Aber nor-
malerweise nicht bei Gruppen,
die unserer Gesellschaftsord-
nung kritisch gegenüberstehen,
aber nichts Verbotenes tun.
SPIEGEL: Sie sagen »normaler-
weise«. Warum?
Bäcker: Weil das Urteil da eine
Ausnahme macht: Wenn eine
Gruppierung »in sehr großem
Stil besonders wirkungsvoll
Fehlinformationen verbreitet« –
auch wenn diese Behauptungen
im Einzelfall möglicherweise
noch nicht strafbar sind, aber
eben ein systematisches Lügen-
gebilde ergeben, das unsere de-
mokratische Ordnung delegiti-
mieren soll. Ganz offenkundig
zielt das auf die »Querdenker«-
Bewegung, und das kann ich
auch nachvollziehen.
SPIEGEL: Sie halten den Verfas-
sungsschutz also nicht für über-
flüssig?
Bäcker: Nein. Es geht darum,
Auswüchse zu beseitigen, an
denen niemand
ein Interesse ha-
ben kann. Mit kla-
ren, kon-
trollierbaren Re-
geln, die Rechtssi-
cherheit schaffen –
auch für die Be-
hörden und die
verantwortlichen
Politiker. HIP

Rüstung im Visier


EXTREMISMUS Das Bundeskri-
minalamt warnt Rüstungsunter-
nehmen und Zuliefererfirmen
vor Protesten und Sachbeschä-
digungen durch die linksextre-
me Szene, auch Sabotageaktio-
nen oder Brandanschläge seien
möglich. Hintergrund ist ein
Eintrag auf der Szeneplattform
Indymedia. Darin wird dazu
aufgerufen, »Profiteure der Rüs-
tungsindustrie« anzugreifen.
Kriegszeiten seien »fette Zei-
ten« für die »Waffenschmieden

und ihre Kooperationspartner«,
weshalb es angebracht sei, den
Unternehmen »mit allen Mit-
teln zu schaden«. Ins Visier
nehmen die militanten Kriegs-
gegner neben großen Konzer-
nen wie Rheinmetall auch zahl-
reiche kleinere und mittelstän-
dische Firmen, die angeblich
mit den Rüstungskonzernen zu-
sammenarbeiten. Anfang April
gab es mutmaßlich mit Butter-
säure einen Anschlag auf Rhein-
metall-Büros in Bremen. Fünf
Angestellte wurden verletzt,
der Staatsschutz ermittelt. WOW

Aufgezeichnet von
Bäcker Tobias Großekemper
Anne Behrendt / KIT

HC Plambeck / DER SPIEGEL
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