Der Spiegel - ALE (2022-04-30)

(EriveltonMoraes) #1
KULTUR

Nr. 18 / 30.4.2022DER SPIEGEL 111

O


lga Smirnova rauscht über die Bühne.
Die Spitzenschuhe scheinen den Boden
kaum zu berühren, sie dreht Pirouette
um Pirouette. Es ist ein Aprilabend in Ams-
terdam, das Opernhaus ausverkauft. Rentner,
Schulkinder, Teenager sind gekommen, um
die Ballerina zu sehen.
Smirnova tanzt die Hauptrolle in »Ray-
monda«, eine der anspruchsvollsten Frauen-
figuren im klassischen Ballett. Aber nicht nur
deshalb sind so viele gekommen. Nach drei
Akten und zig Hebefiguren, Sprüngen, Dre-
hungen steht Smirnova lächelnd vor dem nun
jubelnden Publikum. Sie ist derzeit die welt-
weit bekannteste Primaballerina. Und, sogar
im Moment noch wichtiger, eine jener
Russinnen, die von einem westeuropäischen
Publikum Standing Ovations erhalten. So
wie jetzt. Smirnova tanzte im Bolschoiballett
in Moskau, bis Russland den Angriffskrieg
gegen die Ukraine begann. Sie galt als Aus-
nahmetalent, war der Star der berühmtesten
Ballettcompagnie der Welt. Dann verließ sie
ihr Land.
»Ich will aufrichtig sein und sagen, dass ich
mit jeder Faser meiner Seele gegen den Krieg
bin«, schrieb sie Anfang März auf Telegram.
Sie habe nicht gedacht, dass sie sich je für
Russland »schämen« müsse. »Jetzt aber habe
ich das Gefühl, dass eine Linie überschritten
ist zwischen dem Davor und dem Danach.«
Auch Smirnovas Fortgang markiert eine
Linie. Zwischen einem Davor, in dem sich
Ballettcompagnien zwischen Russland und
dem Westen austauschten, Choreografen hier
und dort arbeiteten, Tänzerinnen sowieso.
Und einem Danach, in dem etwa das Royal
Opera House in London die Sommertour des
Bolschoi streicht und der Krieg zu einem ein-
zigartigen Exodus an Spitzentänzerinnen und
-tänzern führt, aus der Ukraine und aus Russ-
land. Der Mythos des sagenumwobenen rus-
sischen Balletts bröckelt nicht nur, sondern
stürzt vor den Augen der Welt ein.
Dabei ist Ballett keine ursprünglich russi-
sche Kunst. Der Choreograf der bis heute
populärsten Ballette, »Schwanensee«, »Nuss-
knacker«, »Dornröschen« und auch »Ray-
monda«, war Franzose. Obwohl Marius
Petipa (1818 bis 1910) fast 60 Jahre lang in
Russland arbeitete, sprach er nur schlecht
Russisch. Dennoch hat sich sein Spitzentanz
vor allem in Russland tradiert. Nirgendwo


findet klassisches Ballett bis heute so viel
Beachtung wie dort, existiert im Publikum so
viel Wissen über diese Kunstform. Zugleich
wird vielen im Westen erst jetzt klar, dass das
Ballett schon immer politisch war.
»Der eiserne Vorhang ist auf die Ballett-
welt niedergegangen«, sagt Ted Brandsen.
Der künstlerische Direktor des niederländi-
schen Balletts sitzt an einem Konferenztisch
in seinem Büro im hinteren Teil des Opern-
hauses und blickt eindringlich durch ein sehr
großes Brillengestell. Auf ihrem Weg Richtung
Westen hätten der Ballerina Smirnova wohl
Tore zu allen wichtigen Ensembles offen ge-
standen, Paris, London, vielleicht auch New
York. Dass sie sich für das etwas weniger re-
nommierte Haus in Amsterdam entschied, ist
dennoch nicht abwegig. Brandsen hat die nie-
derländische Spielstätte zum Ort einer der
interessantesten Compagnien Europas ge-
macht, gilt in der Branche als gut vernetzt.
Jeden Tag, sagt Brandsen, erreichten ihn
Anfragen von Tänzerinnen und Tänzern auf
Arbeitsuche. Für Smirnova und einen weite-
ren Solisten aus Russland hat er zwei Jobs
geschaffen, die es vorher nicht gab. Dazu hat
Brandsen noch vier ukrainische Tänzer an-
gestellt. Er tue, was er könne, sagt er, aber:
Mehr sei nicht drin.
In kaum einer anderen Kulturbranche fin-
det derzeit ein solches Stühlerücken statt. In
den Compagnien selbst, wo die Konkurrenz
zugenommen hat, aber auch auf den künst-
lerischen Spitzenpositionen. Da der General-
direktor des Bolschoi, Wladimir Urin, sich
gegen den Krieg aussprach, muss er seinen
Posten an der Spitze wohl bald räumen.
Beerben könnte ihn der in München wegen
seiner Nähe zu Wladimir Putin geschasste
Dirigent Walerij Gergijew. Er leitet bereits
das Sankt Petersburger Mariinsky-Theater.
Laut russischen Nachrichtenagenturen will
Putin aus ihm eine Art Superintendant ma-
chen. Der konservative Dirigent hätte dann

die Macht über die zwei wichtigsten Bühnen
Russlands. Der Vorgang um Gergijew sei ein
Sinnbild für Autokratismus, sagt Christoph
Garstka, Professor für Russische Kultur an
der Ruhr-Universität Bochum. »Die Botschaft
ist doch sehr klar. Damit macht Putin deutlich,
dass seine Anhänger keine Angst haben müs-
sen. Wer zu ihm steht und im Ausland darauf-
hin Probleme bekommt, wird anschließend
bei ihm unterkommen.«
Der Kreml könnte dafür mit einem Ger-
gijew bis zum Bühnenvorhang durchregieren
und das Repertoire auf ein Minimum schrump-
fen, vermutlich auf russische Klassik, sowje-
tisch interpretiert, Heldeninszenierungen und
melancholische Märchen. »Diese staatlich
subventionierte, kitschige Nussknackerwelt
ist politisch gewollt«, sagt Garstka. Er beob-
achtet seit Langem, wie der Kreml sein Image
über die Kultur poliert und wie der Westen
auf die Inszenierung reinfällt. Dass russisches
Ballett mit seinen tradierten Choreografien, den
fantastischen Welten und der Tschaikowsky-
musik aus dem 19. Jahrhundert apolitisch
wirke, ist ein gut konstruierter Mythos.
Ballett sei vor allem seit der Sowjetzeit
stark politisiert worden, sagt die Slawistin
Marina Scharlaj, die in Dresden zu russischer
Kultur forscht: »Ballett ist ja eine Art Parade
in anderer Form.« Durch streng choreogra-
fierten Tanz und hohe Ansprüche an die Ath-
letik habe man Körper in Kollektiven diszi-
plinieren können, das habe sich auch gut in
die russische Tradition einer Zeremonial-
kultur gefügt – es sei die perfekte Kunst ge-
wesen, um sozialistische Ziele zu propagieren
und direkt umzusetzen.
Und Russland wollte schon damals ein be-
stimmtes Selbstbild nach außen transportie-
ren. Man versuchte einerseits, den Westen
sportlich zu übertrumpfen, durch sagenum-
wobene Ballettschulen wie die Waganowa-
Akademie in Sankt Petersburg. Gleichzeitig
sollte im Ballett in Abgrenzung zum rationa-
len, materialistischen Westen die weiche,
schöne, sensible Seite Russlands betont wer-
den, das, was sich Deutsche eben so vorstel-
len, wenn sie an »Russlands Seele« denken.
»Eigentlich«, sagt Garstka, »wird damit aber
ein anderes Weltmodell aufgeführt.«
Jetzt wankt dieses Weltmodell.
Ein anderer Apriltag, Berlin. Morgenlicht
fällt milchig durch die meterhohen Atelier-

Eine Linie überschritten


TANZ Putins Angriff auf die Ukraine erschüttert die Welt des Balletts. Stars fliehen


aus Russland, westliche Compagnien stellen sich neu auf – und es


platzt die Lebenslüge vieler, dass diese Kunstform schön, aber apolitisch sei.


Im Ballett sollte die weiche,
schöne, sensible Seite
Russlands betont werden.
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