Der Spiegel - ALE (2022-04-30)

(EriveltonMoraes) #1

KULTUR


112 DER SPIEGELNr. 18 / 30.4.2022


fenster in die Ballettsäle der Deut-
schen Oper. Es ist kurz nach zehn, die
Tänzerinnen und Tänzer des Staats-
balletts wärmen sich auf, unter ihnen
David Motta Soares. Der gebürtige
Brasilianer ging als Teenager an
die Bolschoi-Ballettakademie nach
Moskau. Nach seiner Ausbildung
wurde er dort Compagniemitglied,
schließlich Führender Solist. »Jedes
Kind, das irgendwo auf der Welt mit
klassischem Ballett anfing, träumte
davon, einmal am Bolschoi zu tan-
zen«, sagt er.
Als der 25-Jährige vom Krieg er-
fuhr, war er fassungslos. Seine Fami-
lie habe ihn mit Nachrichten versorgt,
am Theater habe man sich nicht
viel darüber unterhalten können,
schließlich habe man nie wissen
können, mit wem und wie man über
den Krieg sprechen dürfe. »Und dann
war mir klar, dass ich nicht bleiben
und so tun kann, als wäre nichts. Ich
will nicht Teil von so etwas sein«,
sagt er. Soares verließ Moskau am
Morgen des 4. März, am Abend zuvor
hatte er noch auf der Bühne gestan-
den. In seinem Innern habe er sich
»wie tot« gefühlt.
Neben Soares hat das Staatsballett
zwei weitere Tänzer vom Bolschoi en-
gagiert, geflüchtete ukrainische Tän-
zerinnen und Tänzer können jeden
Tag kostenfrei mittrainieren. Gesucht
würden nun noch drei Tänzerinnen.
Dann seien die Reihen gefüllt, sagt die
kommissarische Intendantin Chris-
tiane Theobald. Ihr Mailpostfach sei
unter den Bewerbungen aus Russland
und der Ukraine bereits dreimal zu-
sammengebrochen. »Es ist unheimlich
belastend, aber ich kann nicht mehr
Planstellen schaffen«, sagt Theobald.
Der Krieg trifft in Europa jetzt auf
die Folgen von Corona: Das Geld ist
knapp, westliche Ensembles werden
nicht vergrößert. In der sowieso
schon kompetitiven Branche wird es
daher noch ein Stück enger. Eine Lö-
sung für Europa könnte ein Exil-
ensemble sein, sagt Theobald. Aus
Russland und der Ukraine geflohene
Tänzerinnen und Tänzer könnten
gemeinsam arbeiten und auf Tour
gehen. Mehrere Kommunen und
Spender müssten allerdings zusam-
menlegen, so ein Vorhaben ist nicht
günstig. Grünes Licht gibt es dafür
bisher nicht.
Vielleicht bröckelt die Fassade der
einander zugewandten Ballettwelten
aber nicht erst seit einigen Wochen.
Zwischen dem Westen und Russland
sind schon vorher Risse entstanden.
Vielleicht waren sie sogar immer
da, sind jetzt bloß unübersehbar ge-
worden.


Elisa von Hof n

In vielen westlichen Compagnien
werden mehr denn je Sehgewohn-
heiten, Stücke und Aufführungsprak-
tiken hinterfragt. Was nicht mehr als
zeitgemäß oder sogar als diskriminie-
rend gilt wie das »Blackfacing«, ver-
schwindet nach und nach aus den
Stücken. Gerade die russischen Bal-
lette aus dem 19. Jahrhundert werden
entstaubt, auch entschlackt. So etwa
der »Nussknacker«, dessen Inszenie-
rung wegen stereotyper und kolonia-
listischer Karikaturen in westlichen
Theatern immer wieder zur Disposi-
tion steht, denn in dem Stück gibt es
unglückliche pseudo orientalische und
-chinesische Tanzeinlagen.
Auch in Russland, wo Werktreue
immer wichtig genommen wurde,
deuteten sich vor dem Krieg sachte
Veränderungen an, etwa durch Cho-
reografen aus dem Ausland. Im ver-
gangenen Jahr beispielsweise griff
der Direktor des Zürcher Balletts,
Christian Spuck, in seiner »Orlando«-
Inszenierung am Bolschoi Gender-
fragen auf. Smirnova, die die Rolle
des männlichen Protagonisten tanzt,
wacht darin schließlich als Frau
auf  – wegen der queerfeindlichen
Atmosphäre in Russland ein Risiko.
Das Stück wurde zwar erst ab 18 Jah-
ren freigegeben. Aber immerhin
konnte man es sehen.
Damit ist nun Schluss. Choreo-
grafen wie Spuck, der im kommen-
den  Jahr das Berliner Staatsballett
übernehmen wird, sind fort. »Die
russischen Compagnien werden jetzt
in einen Status zurückgesetzt, wie
sie ihn vor vielleicht 30 Jahren hat-
ten«, sagt Intendant Brandsen in Ams-
terdam. Vielleicht ist das Publikum
damit gar nicht so unglücklich, der
Kreml ohnehin nicht. »Aber was
bedeutet das für die Tänzerinnen?
Und für die Künstler? Für alle, die
mehr künstlerische Freiheit suchen?«,
fragt Intendant Brandsen matt. »Für
sie ist es eine unheimlich traurige
Situation.«

Zur Wahrheit gehört aber auch:
Traurig ist die Situation nicht für
alle gleichermaßen. Tänzerinnen
und Tänzer suchen verzweifelt nach
einem Job, jemand wie Brandsen
hat durch Smirnovas Engagement
seine Compagnie und damit seine
Karriere veredelt. Hat der Krieg
für westliche Compagnien also
auch eine gute Seite?
»So kann ich das nicht sehen«, sagt
Brandsen diplomatisch. Er sei glück-
lich, Smirnova bei sich zu haben.
»Aber um ehrlich zu sein: Ich hätte
mir gewünscht, es wäre nicht nötig
gewesen. Ich hätte mir gewünscht, wir
hätten uns unter anderen Umständen
kennengelernt.«
Am Abend zuvor drehte sich
Smirnova in einem silbernen Tutu,
das Scheinwerferlicht brach sich an
ihren scharfen Wangenknochen, ein
Diadem glitzerte auf dem streng
frisierten Kopf. Und obwohl sie
ge rade keine Interviews gibt, sandte
sie an diesem Abend ein Zeichen nach
Russland.
Im Stück muss sie sich zwischen
zwei Männern entscheiden: einem
weißen Unterdrücker, der den Krieg
sucht, und dem arabischen Scheich
Abd al-Rahman, dessen Liebe sie
über jedes Wagnis und über viele Me-
ter auf der Bühne schweben lässt. Im
russischen Original heiratet Raymon-
da den Sieger eines grausigen Duells
um ihr Herz, es ist der weiße Mann.
In der Amsterdamer Version entdeckt
sie ihr eigenes Begehren – und ent-
scheidet sich trotz gesellschaftlichen
Drucks für Abd al-Rahman.
Obwohl das Stück vor Kriegsaus-
bruch auf dem Spielplan stand, ist
diese Nachricht schnell zu decodie-
ren. Zumindest auf der Bühne kom-
men Kriegstreiber nicht mehr weiter.
Und Frauen wie Smirnova gehen
ihren eigenen Weg.

Aufführung
im Bolschoitheater
Anfang April: Gut
konstruierter Mythos

Training unter Tränen
Wie der Krieg die Tanzwelt ver­
ändert, ist am Staatsballett
Berlin nicht zu übersehen. Als
die Redakteurin Elisa von Hof
eine offene Probe besuchte, trai­
nierte neben dem Bolschoitänzer
Soares eine Ballerina aus der
Ukraine. Weinend erzählte sie
von Telefonaten mit ihren Eltern,
die noch in der Heimat seien,
und von ihrer hoffnungslosen
Job suche. Der russische Ballett­
mythos strahlte stets heller, aber
auch in der Ukraine gab es eine
lebendige Tanzszene – bis jetzt.

»Und dann
war mir klar,
dass ich
nicht bleiben
und so tun
kann, als
wäre nichts.«

Tänzer Soares

Gregory Shelukhin / Staatsballett Berlin

Vyacheslav Prokofyev / TASS / picture alliance / dpa
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