Der Spiegel - ALE (2022-04-30)

(EriveltonMoraes) #1

KULTUR


118 DER SPIEGELNr. 18 / 30.4.2022


B


ei Umfragen habe ich immer
eine Affinität zu den absoluten
Agnostikern verspürt, die,
nachdem sie alle angebotenen Mög-
lichkeiten geprüft und zweifels ohne
abgewogen haben, jedes Mal das
letzte Kästchen ankreuzten:»unent-
schlossen«.
Bei dieser letzten Wahl hat ein
französisches Institut für Umfra-
gen – ich habe vergessen, welches –
eine Neuerung eingeführt, indem es
auf die Frage »Gehen Sie am nächs ten
Sonntag wählen?« nach dem klas-
sischen »Ja« und »Nein« eine dritte
Antwort mit folgendem Wortlaut
anbot: »Ich ziehe es ernsthaft in
Betracht.«
»Ich ziehe es ernsthaft in Betracht«


  • das gibt zu denken. Als ob das nor-
    male, überlegte und vor hersehbare
    Verhalten nunmehr die Enthaltung
    wäre, es dem Bürger aber weiterhin
    freistünde, nach schwie rigen persön-


lichen Erwägungen eine »Nichtver-
längerungsklausel« in Anspruch zu
nehmen.
Hinsichtlich dieser Wahlen bin ich
versucht, mir selbst auf die Schulter
zu klopfen und darauf hinzuwei sen,
dass bislang alles so läuft, wie in mei-
nem letzten Roman vorhergesagt. Das
war, zugegeben, einfach; sagen wir,
es handelte sich um keine gewagte
Prophezeiung.
Ich möchte diesen Augenblick der
Unbescheidenheit ausgleichen, indem
ich dem SPIEGEL einen Lorbeerkranz
flechte. Die strahlende Titelseite, die
hier abgebildet ist, erschien während
meines letzten Aufenthalts in
Deutschland, anlässlich der Frank-
furter Buchmesse, die auch der Anlass
für mein letztes richtiges Interview
war, mit Fragen und Antworten und
so weiter. Die Schönheit des Macron-
Zitats »Ich bin nicht arrogant« liegt
darin, dass das Foto dazu exakt das

Gegenteil erzählt. Aber auch darin,
dass eine absolute Unwahrheit, mit
einer solchen Chuzpe vorgetragen,
über die erste Verblüffung hinaus so
etwas wie eine Offenbarung sein
kann.

E


in weiteres Beispiel dafür gab
es kürzlich in Frankreich, als
Marion Maréchal, die Nichte
von Marine Le Pen, (um sich selbst
zu loben) sinngemäß behauptete, dass
die Menschen nicht mehr nach ihren
Interessen, sondern nach ihren Über-
zeugungen wählten. Selten hat eine
öffentliche Person in Frankreich einen
Satz geäußert, mit dem sie so falsch
lag. Die Wahl ist schon immer, mehr
oder weniger, eine Klassenwahl gewe-
sen; aber in diesem Ausmaß war sie
es noch nie. Auf soziologischer Ebene
ist die Lehre aus den Wahlen voll-
kommen klar, sie lässt sich in einem
Satz zusammenfassen: Die Reichen
wählen Macron, die Armen wählen
Le Pen, die Mittelschicht wählt Mé-
lenchon. Es ist eine einfache, brutale
Lesart, und sie funktioniert perfekt.
Auf der Ebene der »Altersklassen«
muss man es ein wenig differenzieren,
wenn auch nur geringfügig. Mein
Freund Jean-Pierre Dionnet hat für
mich einmal das Erwachsenenleben
in drei Phasen zusammengefasst. In
der ersten Phase (entsprechend einem
»Junior-Ticket« der französischen
Bahn SNCF) genießt man das Leben,
hat Spaß und so weiter. Das dauert
etwa bis zum Alter von 26 Jahren.
Bei der letzten Phase (»Senioren-
Ticket«), ab 60 Jahren, also etwas
unterhalb des Rentenalters, in dem
ich das hier schreibe, ist es im Prinzip
dasselbe: Man genießt das Leben,
man amüsiert sich (na ja, immerhin
tut man so als ob). Dazwischen liegt
der Ernst des Lebens. Man arbeitet
oder versucht zu arbeiten; man hält
die Welt am Laufen oder versucht es.
Manche streben den Erfolg an, an dere
die Gründung einer Familie, manch-
mal auch beides. Schließlich hat man
nicht jeden Tag etwas zu lachen. Die
Jungen wählen Macron und Mélen-
chon, die Alten wählen Macron; wer
arbeitet, wählt Le Pen.
Das Wichtigste, das Entscheiden-
de, ist und bleibt aber die Klassen-
wahl. Wenn ich auf dem Begriff der
Klasse beharre, riskiere ich, der über-
triebenen Unterwerfung unter mar-
xistische Konzepte beschuldigt zu
werden: Das ist nicht ganz falsch,
aber ich werde differenzieren. Es gibt
ein Phänomen, von dem Marx so gut
wie nichts verstand, ein Phänomen,
das soziologisch vernachlässigbar,
aber bei Einzelpersonen (und bei Prä-

Einfach, brutal – und perfekt


GASTBEITRAG Frankreichs Reiche wählen Macron, die Armen wählen Le Pen,


die Mittelschicht wählt Mélenchon – die soziale Klasse bestimmte die


Präsidentschaftswahl wie nie zuvor. Versprechen kann ich Ihnen nur eines,


liebes deutsches Publikum: Wir werden es 2027 besser machen.


Von Michel Houellebecq


SPIEGEL-Titel 42/2017
mit Macron


Houellebecq, 66,
ist der bekannteste
lebende Autor
Frankreichs.
Kon trovers disku-
tiert wird, ob er
Gesellschaften am
Abgrund beschreibt
oder selbst reak-
tionär denkt. Zuletzt
erschien »Vernich-
ten« bei Dumont.


Philippe Matsas / opale.photo / ddp
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