Der Spiegel - ALE (2022-04-30)

(EriveltonMoraes) #1
Nr. 18 / 30.4.2022DER SPIEGEL 119

KULTUR

sidentschaftswahlen geht es in erster Linie
darum, eine Person zu wählen) manchmal
von entscheidender Bedeutung ist: der Verrat
an der Klasse; und dafür hatten wir im Laufe
der letzten Wahl zwei spektakuläre Beispiele.
Marine Le Pen, die im Überfluss aufge-
wachsen ist und ihre Jugend in Nachtklubs
verbracht hat (wenn auch nicht im Jetset, so
doch nah dran), hatte in Hénin-Beaumont
bei den Armen eine Offenbarung. Dieses
Phänomen ist in der Geschichte schon oft
aufgetreten: Franz von Assisi, Vincent de
Paul und so weiter. Ohne so hoch hinaus zu
wollen, hat Marine Le Pen festgestellt, dass
sie mehr Vergnügen daran hat, mit einer Lidl-
Kassiererin zu plaudern, als einen weiteren
Nachmittag auf dem Landgut ihres Vaters
zu verbringen. Marine Le Pen hat damit ihre
Klasse verraten.
Éric Zemmour ist den umgekehrten Weg
gegangen. Geboren in eine jener jüdischen
Familien (es gibt noch einige wenige, viel
weniger als früher, aber es gibt sie noch),
die notwendigerweise gezwungen waren, in-
mitten von Muslimen zu überleben, berausch-
te er sich am Umgang mit den Reichen, Wich-
tigen und Berühmten; in letzter Zeit genoss
er es, unter jungen Menschen einen gewissen
Eifer zu wecken. Das war in der Tat uner-
wartet und wunderbar und verzeihlich, aber
Zemmour hat dennoch eine Bewegung aus-
gelöst, die die Lage in unserem unglücklichen
Land nicht einfacher machen wird.


S


eit Langem hatten wir in Frankreich
zwei unversöhnliche Linke (für und
ge gen die Wokeness, um es zu verein-
fachen). Die Rechte versuchte unterdessen,
ein Paar zu spielen, das »wegen der Kinder
zusammenbleibt«; aber sie hatte keine Kin-
der. Éric Zemmour hat vielleicht die Bedin-
gungen für zwei extreme, unversöhnliche
Rechte geschaffen, das wäre ein echtes No-
vum. Aber die deutsche Öffentlichkeit sollte
sich nicht täuschen lassen: Auf beiden Seiten
wird ideologischer Quark geäußert werden



  • der eigentliche Gegensatz wird aber, wie
    jedes Mal, ein reiner Klassenkonflikt sein.
    Marion Maréchal zum Beispiel hat ihre
    Klasse nie verraten.
    Wir haben der Weltöffentlichkeit, die uns
    die Ehre erweist, unsere Spiegelfechtereien
    zu verfolgen, ein mittelmäßiges Schauspiel
    geboten. Das ist kein Wunder. Wenn das
    Ergebnis von vorneherein feststeht, ist es
    schwierig, sich für das Spiel zu interessieren.
    Ich weiß nicht, ob sich die Vorhersagen in
    meinem Roman bewahrheiten werden. Die
    Rediabolisierung des Rassemblement Natio-
    nal wird immer schwieriger umzusetzen sein.
    Vielleicht (oder vielleicht auch nicht?) hat die
    Dummheit der Bevölkerung ihre Grenzen.
    Ich kann Ihnen nur eines versprechen,
    liebes deutsches Publikum: Wir werden es
    2027 besser machen. Und ich kann hinzu-
    fügen (was weniger vergnüglich ist), dass
    Versöhnung bei uns nicht auf der Tagesord-
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